Originalton

Vögel und Gedichte 2

Ulrike Draesner
Ulrike Draesner © dpa / picture alliance / Swen Pförtner
Von Ulrike Draesner · 01.07.2014
Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftstellerinnen und Schriftsteller bitten. In dieser Woche von Ulrike Draesner.
Ich arbeite an Vogelgedichten. In den Berliner Hinterhöfen, in die ich seit ein paar Jahren blicke, stehen hohe Bäume. Das Elsternpaar des Sommers 2012 scheint verschwunden. Ich höre Kleingezirpe. Blau- und Kohlmeisen erkenne ich, vor kurzem war ich mir sicher, eine Gartengrasmücke auf meinem Balkongitter sitzen zu sehen. Das Morgen-und Abendgezwitscher vor vor meinem Fenster kommt mir manchmal nahezu seltsam vor nach all dem Hören und Lesen über Vögel im Netz. Wie wirklich die sind, da draußen!
Wie anders!
Wie wunderbar – wunderbar vogelhaft.
Man kann ihre Laute nicht übersetzen. Sie berühren uns, weil sie aus Nichtmenschenkehlen stammen. Dennoch oder vielleicht deswegen haben Menschen von jeher versucht, die Lieder der Vögel in ihre menschlichen Tonfolgen zu übertragen. Auch wenn dieses Unternehmen so "futil" ist. Unvermittelt ist es aufgetaucht, dieses Wort: "futil":
Was das soll?
"Futile" aus dem Englischen, flüchtig? Oder doch eher Flöte? Schon ein halber Imitationsvers? So heißen die Reime und Sätze, die Menschen den Vögeln nachsprechen, um Vogelgesang zu übersetzen. Und so habe ich ihn entdeckt, den Subsong, auch Plaudergesang der Vögel: futile Flöte, oder geflötete Welle, auf Deutsch.
Singvögel singen nicht nur, um ihr Revier zu verteidigen oder um zu balzen. Sie singen auch nach der Brut. Plaudergesang, Subsong: Probieren, ganz individuell, neue Melodien aus, imitieren Geräusche oder andere Vogelgesänge. Ohne Sinn und Zweck, ohne Funktion. Halb Rauschen, halb Freude. Erprobungen des Vokabulars, sagen die Ornithologen.
Ich sage: Ohne es zu bemerken, beobachtet man Poesie.
Heute ist es da, das Amselmännchen. Sitzt auf einer aus einem Kamin gegenüber ragenden Metallstange und schmettert seine Lieder. Wahrlich, die Stange ist kein Ausguck, sondern ein Aus-Sing. Singwarte heißt sie in der Sprache der Vogelkundigen.
Amsel, schwarzer Vogel aus dem Wald. Gern möchte ich, nach Spatzen, Zaunkönigen, Schwalben, Mäusebussarden, Elstern und Hornraben auch ein Gedicht über sie schreiben. Turdus merula. Von deren Population, weil unsere Winter wärmer und wärmer werden, nur mehr Teile in den Süden ziehen – während andere den Winter in Deutschland wagen. Die Imitationsverse, die ich zur Amsel finde, sagen: Schlussschlenker des Liedes "Komm bald wieder". Oder: "Oui, Willy, oui." Meine Verse sagen: Amselgedicht bislang ungelungen.
Zu ungreifbar, der langen Vertrautheit wegen, zu schwarz.
Und alles Wissen hilft nicht weiter. Ich denke daran, um mich auf einer Brücke auf das Finden-Erfinden des Gedichtes zuzubewegen.
Ist es das, ein Gedicht zu schreiben: nach Verstecken zu suchen? Was in den Erscheinungen versteckt ist. Erscheinungen, zu denen auch Worte zählen. In Worten versteckt. So führt mich der Vögel Subsong, ihr unter den Bedeutungen frei sich entwickelndes Lied, zu dem Wort Sprachschatz. Bis ich etwas davon fühle-ergreife: Wie Wissen in Sprache wartet. Dort nicht ruht, sondern treibt.
Ich denke: wenn ein Amselgedicht, dann eines mit einem jungen, unerfahrenen Amselweibchen. Sehe: im März. Reste von Schnee. Das Weibchen hüpfend, am Boden. Staunend darüber, was es in diesem ersten März seines Lebens entdeckt. Wie die Sonne wiederkommt. Wer es ist.