Originalton

Texte in der Erde

Verwehte Fußspuren auf einer Sanddüne bei Assuan in Ägypten, im Hintergrund blauer Himmel
Verwehte Fußspuren auf einer Sanddüne © dpa / picture alliance / Arved Gintenreiter
Von Patricia Görg · 17.10.2014
Ritualtänze, Höhlenmaler bei der Arbeit, sogar ein Schuhabdruck: Das lasen Wissenschaftler aus Fußspuren, die sich von unseren Vorfahren aus der Eiszeit noch in Höhlen finden. Doch ein Jäger-Volk aus der namibischen Wüste, Fährtenleser par excellence, entzauberte so manche Wissenschaftler-Fantasie.
Unsere eiszeitlichen Vorfahren, die vor 17.000 Jahren über den Lehmboden von Pyrenäenhöhlen liefen, hatten zu tun. Sie liefen hin und her, einzeln oder in Gruppen, folgten Ritualen, Mordgelüsten oder Haushaltspflichten – wer weiß das schon? In einigen Höhlen hinterließen sie komplizierte Fußspuren. Vollgesogen mit Dunkelheit und Kälte, warteten diese 17.000 Jahre lang auf ihre Entzifferung. Dann kamen Wissenschaftler mit Stirnlampen, beugten sich über die Abdrücke und begannen zu fantasieren: Sie sahen einen Ritualtanz. Sie sahen Höhlenmaler bei der Arbeit. Sie sahen Fluchten und Ruheplätze. Sie sahen mit aufgerissenen Augen: einen Schuh! Nein, den Abdruck eines einzelnen Schuhs, getragen während der Eiszeit. Das war die größte Sensation.
Die Wissenschaftler widmeten unseren Vorfahren einen Park, in dem Nachbildungen der Höhleninnereien für all jene geformt wurden, die nicht ins echte Dunkel dürfen. Und natürlich stritten die Wissenschaftler über das, was sie entdeckt hatten, liefen erregt von Tagung zu Tagung, hin und her, hinterließen dabei auf gebohnerten Fußböden keine Spuren.
So sog sich die Materie weiter voll mit Geheimnis. Kleine Vertiefungen in großen Höhlen schwiegen. Bis eines Tages jemand auf die Idee kam, Fährtenleser aus der namibischen Wüste Kalahari aufzuspüren und auf das Problem anzusetzen.
Lehmtransport statt Ritualtanz
Das Jäger-Volk der San ist als eines der letzten noch imstande, Tiere, Freunde und Feinde anhand ihrer Fußspuren in der Wüste zu identifizieren und zu verfolgen. Präzise lesen sie Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand und andere Details aus den Spuren, als wären sie ein Dossier. Sie interpretieren die Abdrücke der Schwerkraft wie andere Leute Handschriften, und in ihrer Welt, im Sand, hinterlässt beinahe alles, was sich dort bewegt, einen Text für sie.
Solcherart qualifiziert, machten sich die Schriftgelehrten aus der Wüste, die immer im Licht badet, an die Arbeit im ewigen Dunkel der Vergangenheit. Von den Wissenschaftlern ausgerüstet mit warmen Jacken und Taschenlampen, krochen sie durch kalte, enge Gänge, robbten sich auf dem Bauch vor zu den Stellen, an denen unsere Vorfahren hin- und hergelaufen sind. Die San schmunzelten. Einen Schuh konnten sie nicht erkennen. Das vermeintliche Zeugnis eines Ritualtanzes sind die Abdrücke eines Erwachsenen und einen Kindes, die in der Höhle Lehm geholt haben, denn ihre Spuren sind beim Hinausgehen tiefer eingesunken als beim Hereinkommen. Von insgesamt 17 eiszeitlichen Höhlenbesuchern bestimmten die San Alter und Geschlecht.
Die Jäger aus der Kalahari verabschiedeten sich. Sie haben Fährten der Menschheitsgeschichte entschlüsselt – einer Geschichte, die schwankt in einem Hin und Her zwischen Ritualen, Mordgelüsten und Haushaltspflichten, als Fußnoten festgehalten in Pyrenäenhöhlen.
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