Orgasmus und Tod

Rezensiert von Frank Meyer · 29.08.2005
Orgasmus und Tod sind vertraute Gefährten in diesen Storys. Nicht, dass beim Coitus unentwegt gestorben würde. Die intime Nähe der Körper öffnet jedoch ein Fenster in die Vergangenheit oder die Zukunft der Figuren von David Means, und dort wartet, bestürzend nah, der Tod.
Am innigsten führt das die Titelgeschichte des Bandes "Coitus" vor. Ein Sommernachmittag, zwei erwachsene Menschen, Bob und Ellen, sind beim außerehelichen Beischlaf. Als er in sie eindringt, erinnern ihn Signale von draußen, er weiß selbst nicht welche - ein kühler Wind oder die Sirene eines Lastkahns? - an seinen Bruder Tom. Der ist beim Kanufahren im Norden von Michigan ertrunken, in einem eiskalten Fluss, von Ästen unter dem Wasser festgehalten. Bob hat seinen Bruder noch gesehen, von der Strömung des klaren Flusses sanft bewegt. Sie waren junge Männer damals. Dieser Tod begleitet den gealterten Bob, als er mit Ellen schläft. Lust und Klage durchdringen sich, Kälte und Wärme, ein Abschied für immer und ein neuer Anfang. Die verwirrenden Gleichzeitigkeiten schildert David Means, leise und präzise, ganz ohne Erklärungen.

In fast jeder seiner Geschichten geht ein Mensch verloren. Der Teenager Sam ist von einer Sandlawine verschüttet worden. Ein junger Mann erinnert sich voller Scham an den toten Freund, den er einst an brutale Schulkameraden verraten hatte, während sich hinter ihm in den Sanddünen seine neuen Freunde aufeinander wälzen. – Eine der erstaunlichsten Konstellationen führt die Erzählung "Die Lage der Witwe" vor. Eine frisch verwitwete Frau lernt einen neuen Mann kennen, unpassend schnell, wie sie selbst findet. Nach einem harmonischen Abendessen führt sie dem Geliebten ein Video vor, das sie mit ihrem verstorbenen Mann beim Sex auf der Hochzeitsreise zeigt. Was will sie mir mit diesen Bildern sagen, fragt sich der Geliebte konsterniert.

"Ich will nicht, dass in meinen Geschichten noch jemand stirbt", ermahnt sich der Autor in der kürzesten Story. Die Mahnung missachtet er, so wie er sich auch an kaum eine der Konventionen realistischen Erzählens hält. Eine kommentierende Erzählerstimme erhebt sich in vielen Geschichten, David Means streut Fußnoten ein oder Erzählvarianten, er behandelt Übersinnliches und Unmögliches wie etwas Normales. Eine Geschichte wird vom "Elyriamann" erzählt, einer Moorleiche, die für einen Toten erstaunlich eloquent ist und sich im weltweiten Moorleichenreich bestechend gut auskennt. Wo auch immer jemand unter dem Moor ruht, ob seit gestern oder seit 2000 Jahren, der Elyriamann kennt seine Geschichte, und wir werden nie erfahren, woher.

Die plaudernde Moorleiche – Einfälle wie dieser machen David Means Geschichten interessant. Für fast alle seiner Storys findet er einen solchen Dreh, der die Erzählstimme variiert und den Leser überrascht. Wie sein großer Vorgänger Raymond Carver kommt Means mit Andeutungen aus. Knapp und klar fügt er seine Geschichten ineinander, springt zwischen den Zeiten und wechselt die Perspektiven höchst kunstfertig, ohne dass die Demonstration erzählerischer Finessen zum Selbstzweck wird. Wirklich stark werden die Geschichten aber durch die Intensität, mit der David Means von den Berührungen zwischen Leben und Tod erzählt.

David Means: "Coitus", Storys, aus dem Englischen übersetzt von Dirk van Gunsteren, DuMont Verlag, 280 Seiten, € 19,90.