Organspende in Deutschland

Geh aus, mein Herz ...

Nur 22 Prozent in Deutschland haben einen Organspende-Ausweis.
Nur 22 Prozent in Deutschland haben einen Organspende-Ausweis. © Julian Stratenschulte/dpa
Von Monika Köpcke · 22.08.2016
Mein Tod - dein Leben. Selten ist das Schicksal zweier Menschen so existenziell miteinander verwoben wie bei einer Organspende. Ein neues Herz, eine neue Leber können schwer kranken Menschen eine Zukunft schenken. Doch auf die Einwohnerzahl gerechnet gibt es in Deutschland seit Jahren weitaus weniger Organspenden als im restlichen Europa.
Und das war auch schon vor den Manipulationsskandalen von 2012 so, nach denen die Zahl hierzulande noch einmal einbrach. Dabei ist die Bereitschaft, Organe zu spenden, hoch. Zumindest theoretisch. 70 Prozent der Deutschen stehen dem Thema Organspende positiv gegenüber. Woran liegt es also, dass nur 22 Prozent von ihnen einen Organspendeausweis bei sich tragen? Ist es die Verdrängung der eigenen Sterblichkeit, die Angst, von den Ärzten zu früh aufgegeben zu werden, mangelnde Aufklärung oder ein grundsätzliches ethisches Unbehagen mit der Diagnose Hirntod?

Kevin Kerrutt, Herzpatient
"Ich hadere jetzt nicht, dass ausgerechnet mir das passiert ist. Ich bin erschrocken, dass es so jungen Menschen passieren kann. Aber jetzt: Warum gerade ich? Naja gut: Warum nicht gerade ich? Das kann ja jeden treffen. - Ja, ich war 19, ich war jung, die einzigen Hobbys, die ich hatte, waren Fahrrad fahren, Fußball spielen und schwimmen. Viel feiern, ja, und Spaß haben."
Seit dem Sommer 2010 ist dieses jugendliche Leben für Kevin Kerrutt vorbei. Er fühlte sich zusehends schlapper, konnte irgendwann keine 50 Meter am Stück mehr gehen. Die Diagnose: Eine Herzmuskelentzündung. Die Ursache: Wahrscheinlich eine verschleppte Grippe.
"Durch die Herzmuskelentzündung erweitert sich das Herz und ist mittlerweile doppelt so groß wie normal. Wenn das dann so ausgeleiert ist, dann können die Muskeln sich nicht mehr so zusammenziehen und können nicht mehr das Blut so durchpumpen."
Nach fünf Wochen im Krankenhaus steht fest: Das Herz wird sich nicht mehr erholen. Kevin Kerrutt braucht ein neues. Oder, weil Spenderorgane Mangelware sind, ein künstliches Herz.
"Also hab ich da jetzt einen kleinen Schlauch drin in der linken Herzhälfte mit ‘ner Pumpe, und die Pumpe saugt das Blut raus in die Hauptschlagader. Und da die natürlich Strom braucht, hab ich ein Stromkabel, das geht bis ungefähr zum Bauchnabel, ein bisschen weiter rechts, da kommt dann ein Stromkabel aus der Bauchdecke raus und geht in eine Umhängetasche, sieht aus wie eine Laptoptasche. Und da ist dann ein Steuergerät, wo man auslesen kann, wie schnell die Pumpe sich dreht, wie der Blutfluss gerade ist. Was mein Herz noch macht und wieviel die Pumpe leistet."
Tag und Nacht trägt Kevin Kerrutt die schwarze Umhängetasche. Er ist jetzt 24 Jahre alt und weiß, dass das Kunstherz nur eine Übergangslösung ist, dass sein Herz auch mit diesem Unterstützungssystem weiter abbauen wird.
"Es gab jetzt jemanden, der ging ins achte Jahr im Herzzentrum in Leipzig. Aber mehr Erfahrungen gibt’s noch nicht. Vielleicht zehn Jahre? Wer weiß. Man hofft einfach. Vielleicht stell ich ja ‘nen neuen Rekord auf." (lacht).

Johann Pratschke, Leiter der Klinik für Transplantationschirurgie an der Charité in Berlin
"Die aktuelle Situation, kann man eigentlich mit einem Wort beschreiben, ist desaströs. Das war lange vor dem Transplantationsskandal schon so. Der Skandal selbst war noch mal eine Initialzündung, um die Spenderquote noch mal weiter zu reduzieren. Das hat Auswirkungen auf die Anzahl der Patienten, denen wir mit einer Transplantation helfen können. Man muss es ganz klar sagen: Die Patienten sterben häufiger als vor dem Skandal."
Im Sommer 2012 kam heraus, dass in mehreren deutschen Kliniken Ärzte ihre Patienten durch falsche Angaben kränker gemacht hatten, als sie es tatsächlich waren, um ihnen so einen besseren Platz auf der Warteliste zu verschaffen. Die Zahl der gespendeten Organe ging daraufhin schlagartig um ein Drittel zurück und hat sich auf diesem niedrigen Niveau stabilisiert.
Gesetzgeber, Krankenkassen und Ärzteverbände bemühen sich, das Vertrauen wiederherzustellen. Doch unabhängig davon, stellt sich die Frage nach den Ursachen der niedrigen Spenderquote. Bevor er an die Charité kam, hat Johann Pratschke mehrere Jahre in Österreich praktiziert.
Dort gibt es bedeutend mehr Organspenden als in Deutschland. Dort, wie auch in Frankreich, Belgien oder Spanien, gilt die sogenannte Widerspruchslösung.
"In Österreich gibt es sicherlich eine andere gesetzliche Lage. Man ist in der Tat automatisch Organspender und muss sich aktiv in ein Widerspruchsregister eintragen lassen, wenn man nicht spenden möchte. Und die Ärzte sind verpflichtet, eine Abfrage nachweisbar durchzuführen. Nur, das ist nur ein Teil der Geschichte, weshalb die Situation in Österreich eine bessere ist. Ich sehe den Hauptunterschied zwischen beiden Ländern wirklich darin, dass die Akzeptanz und der Wille, Menschen, die todkrank auf ein Organ warten, zu helfen, vielleicht höher ausgeprägt ist, etwas höher vorhanden ist."
Fast 11.000 Menschen hoffen in Deutschland zurzeit auf ein Spenderorgan. Ihnen gegenüber stehen 864 Spender, denen 2014 rund 2.400 Organe entnommen werden konnten. Ist es tatsächlich ein Weniger an Hilfsbereitschaft, was die Deutschen zurückhält? Immerhin stehen laut Umfragen 70 Prozent der Organspende positiv gegenüber. Zumindest theoretisch. Wenn es um die praktische Umsetzung geht, sieht die Sache anders aus. Nur jeder fünfte trägt einen Spenderausweis in der Tasche. Es scheint, als gäbe es eine geheime Hürde, ein unausgesprochenes Unbehagen zwischen der grundsätzlichen Bejahung und der tatsächlichen Bereitschaft.
"Man merkt dann auch, wie ernst die Lage ist, und dass Deine Zimmernachbarn nach und nach wegsterben, weil die es einfach nicht geschafft haben, auf ein Organ zu warten. Dann hat man entweder die Möglichkeit, man versucht, sich durchzubeißen, oder man lässt sich hängen. Und dann ist das ab einem gewissen Punkt viel Kopfsache. Und wenn man sich dann hängen lässt, dann war’s das ganz einfach."
Kevin Kerrutt will kämpfen. Er fügt sich in den Takt, den das Kunstherz diktiert.
"Auch mit Kunstherz darf man sich nicht übernehmen. Und dann lernt man, langsamer zu leben. Im Prinzip schon, als wäre ich jetzt ins Rentenalter gekommen. Denn man hat nur ein gewisses Maß an Kraft und damit muss man ja den ganzen Tag hinkommen. Staubsaugen: Für ein Zimmer reicht’s und dann erst eine halbe Stunde später das nächste Zimmer."
Das Kunstherz hat ein Weiterleben außerhalb der Intensivstation ermöglicht. Aber es hat auch dafür gesorgt, dass Kevin Kerrutt auf der Warteliste weit nach hinten gerückt ist. Ihm geht es mit seinem Kunstherz einfach zu gut für einen aussichtsreichen vorderen Platz. So wartet er bereits seit fünf Jahren auf ein Spenderherz.

Operationsbesteck während eines chirurgischen Eingriffs.
Operationsbesteck wird für eine Organtransplantation vorbereitet.© picture alliance / dpa / Jan-Peter Kasper
Gebhard und Renate Focke – verloren ihren Sohn
"Bei mir war es diese Sache: Ja, wenn, dann soll es ja noch einen Sinn haben. Das ist so ein Zug bei mir: Wenn es schwierig wird, muss es irgendetwas geben, was weiterführt."
Im Sommer 1997 wurde es schwierig. Nach einem Unfall kam der erwachsene Sohn von Gebhard Focke und seiner Frau Renate mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma ins Krankenhaus. Schon im ersten Gespräch machte die Ärztin wenig Hoffnung auf ein Überleben.
Gebhard Focke: "Daraufhin habe ich ganz spontan gesagt: Dann wird ja die Frage der Organspende auf uns zukommen. Ich weiß immer noch nicht, warum mir das so einfiel. Jedenfalls habe ich im Hinterkopf gehabt: Wenn man tot ist, braucht man seine Organe nicht mehr, man kann Leben weitergeben…
Renate Focke: "Ich hatte ein schlechtes Gefühl, ich konnte es aber nicht ausdrücken. Wir hatten immer wieder gehört: Organspende ist gut, Organspende rettet Leben. Ich hatte das Gefühl, wenn ich jetzt nein sage, bin ich ein schlechter Mensch. Aber das war alles auf einer Ebene, über die wir gar nicht gesprochen haben."

Gebhard Focke: "Von da an wurde unser Sohn dann als Organspender behandelt. Man hat ihn mit allen Mitteln am Leben erhalten, um ihn nicht zu verlieren, um seine Organe nicht zu verlieren. Er wäre sonst wahrscheinlich einen Tag früher an Lungenversagen gestorben."


Anne Bärbel Blaes-Eise, Mitarbeiterin der Deutschen Stiftung Organtransplantation
"Natürlich: Ich bin Mitarbeiterin der Deutschen Stiftung Organtransplantation und bin für Organspende. Aber für mich ist es ganz wichtig und das war es schon immer, dass eine Familie eine Entscheidung trifft, mit der sie dauerhaft weiterleben kann. Und das ist manchmal auch ein Nein zur Organspende."
Anne Bärbel Blaes-Eise wird ins Krankenhaus gerufen, wenn sich andeutet, dass es zu einer Organspende kommen könnte. Ihre Aufgabe ist es, die nötigen Verfahrensabläufe zu koordinieren und mit den Angehörigen zu sprechen.
"Wir sind Begleiter, Entscheidungsbegleiter dieser Familie auf ihrem Weg. Es ist eine sehr wichtige Rolle und auch eine, ja, soll ich sagen, gefährliche Rolle. Weil die Familie ist in der Situation in einer Ausnahmesituation, sie ist sehr beeinflussbar, weil sie nicht selbst klar denken können. Da sind auch Fehler gemacht worden, dass man sie vielleicht in eine Richtung drängt, mit der sie hinterher, wenn sie wieder einen klaren Kopf haben, dass sie dann denkt: Was hab ich da gemacht? Das darf auf keinen Fall passieren. Schon allein, dass man die Gedanken dieser Familien, die im Moment in seiner sehr schlimmen Situation ist, auf andere Menschen lenkt, die auch in Not sind, die ein Organ brauchen, kann diese Familie unter Druck setzen. Es ist natürlich so, dass einige Kollegen dafür eher ein Händchen haben als andere."

Marita Donauer – verlor ihren Bruder
"Das ging von jetzt auf gleich von einer Sekunde auf die andere hat sich unser Leben komplett auf den Kopf gestellt."
46 Jahre alt war der Bruder von Marita Donauer, als er 2006 mit einem geplatzten Gehirnaneurysma ins Krankenhaus eingeliefert wurde.
"Und eine junge, etwas überforderte Assistenzärztin hat sofort damit konfrontiert: Er wird sterben. Wie stehen Sie zur Organspende? Also das war schon ein bisschen hammerhart. Auch der Oberarzt war ein bisschen verärgert, weil er gesagt hat: Uns interessieren im Moment nicht irgendwelche potenziellen Organempfänger auf irgendwelchen Wartelisten. Zunächst interessiert dieser Patient. Wir versuchen alles, um ihn zu retten. Also, das muss ich ganz deutlich sagen. Das ist ja oft die Befürchtung, dass man denkt: Och, der ist ja sowieso verloren, und jetzt denkt man mal an die Organspender oder die Organempfänger. Das war nicht der Fall. Im Gegenteil."
Doch die Ärzte konnten nichts mehr für den Bruder tun. Er war geschieden, seine Kinder noch minderjährig, also war es an Marita Donauer, der einzigen Schwester, die Entscheidung zu treffen: Spenden oder nicht? Sie entschied sich dafür.
"Ich hab auch so entschieden, wie ich ihn wahrgenommen habe: Als sehr altruistischen und empathischen Menschen und hab gedacht: Naja, er hätte bestimmt zugestimmt."
Den ‘mutmaßlichen Willen des Verstorbenen’ gilt es im Gespräch mit den Angehörigen herauszufinden. So will es das Transplantationsgesetz. Nach den Organverteilungsskandalen von 2012 wurde es noch im selben Jahr reformiert. Seitdem entscheidet nicht mehr nur ein Arzt, sondern ein Team, wer auf die Warteliste kommt, Bonuszahlungen für Transplantationen wurden abgeschafft, Kontrollen und härtere Strafen bei Verstößen gegen die Vergaberichtlinien eingeführt. Und seitdem gilt in Deutschland die Entscheidungslösung: Jeder soll für sich die Frage beantworten, ob und welche Organe man spenden möchte oder nicht.
Die Krankenkassen sind verpflichtet, ihre Versicherten regelmäßig zum Ausfüllen des Organspende-Ausweises aufzufordern. In diesen Wochen dürften die entsprechenden Flyer wieder verschickt werden. Es steht allerdings jedem frei, dieser Aufforderung auch nachzukommen. Also sind es weiterhin fast immer die Angehörigen, die entscheiden müssen. In den Ländern in denen die Widerspruchslösung gilt, ist das übrigens nicht anders. Auch wenn erst einmal jeder automatisch als Spender angesehen wird, haben die Angehörigen das letzte Wort. Gegen ihren ausdrücklichen Willen würden auch in Belgien, Frankreich, Österreich oder Spanien keine Organe entnommen werden.
Renate Focke: "Wir waren im Grunde störend. Wir wurden immer wieder rausgeschickt aus dem Raum, weil dann ärztliche Maßnahmen an ihm vorgenommen wurden, was wir nicht sehen sollten. Und ich hatte das Gefühl, wir stören den Ablauf und am liebsten wäre es ihnen gewesen, wir wären gar nicht da."

Der Sohn von Renate und Gebhard Focke wird künstlich beatmet. Sein Brustkorb hebt und senkt sich, er ist warm. Er bietet das Bild eines schlafenden Menschen. Um ihn herum rotiert die Krankenhausmaschinerie. Zweimal müssen erfahrene Mediziner unabhängig voneinander den Hirntod feststellen, so will es das Gesetz. Dann muss die Operation zur Organentnahme vorbereitet werden. Gelegenheit für einen Abschied wird den Eltern nicht gegeben. Nach der zweiten Hirntod-Feststellung wird ihr Sohn offiziell für tot erklärt.
Gebhard Focke: "Ich weiß noch, es war 22.01 Uhr, und dann haben wir das Krankenhaus verlassen."

Renate Focke: "Wir waren völlig kopflos. Wir hatten keinen Boden mehr unter den Füßen. Wir hatten danach noch nicht mal verlangt, wir wollen unseren toten Sohn sehen. Hat uns natürlich auch niemand nahegelegt. Ich finde es ganz wichtig, wenn jemand stirbt, wenn es möglich ist, dass man dann die Hand hält, den Übergang miterlebt. Man muss den Tod auch begreifen können. Man muss fühlen, dieser geliebte Mensch wird jetzt kalt und steif. Das ist ein Zustand, wo man sagen kann: Gut, jetzt muss ich mich verabschieden. Aber wenn ein Mensch noch beatmet wird, warm ist, durchblutet ist, dann kann man diesen sogenannten Tod nicht begreifen."
Eine zur Transplantation vorgesehene Niere wird von einer behandschuhten Hand aus einer Metallschüssel genommen.
Eine zur Transplantation vorgesehene Niere© picture alliance / dpa / Balazs Mohai
Wann ist der Mensch tot?

Johann Pratschke: "Das ist natürlich eine Definition."
Aus medizinischer Sicht scheint sie klar: Wenn die Funktionen des Groß- und Kleinhirns und des Hirnstamms erloschen sind. Transplantationschirurg Johann Pratschke:
"Wir wissen alle, dass wir unser Todesempfinden immer an den Herzschlag festgemacht haben. Das hat natürlich historische Gründe. Wie sollte man früher einen Hirntod diagnostizieren? Nur, wir wissen im Krankenhaus, dass der Herzschlag eine schlechte Definition ist: Menschen, bei denen das Herz nicht mehr schlägt, können wir auch wieder zurückholen. Deswegen hat man versucht, eine Todesdefinition zu etablieren, die eben genau das definiert, was den Menschen ausmacht: Und das ist sein Bewusstsein, das ist seine Hirnaktivität, dass er weiß, dass er Mensch ist. Daher kam die Definition des Todes über die Hirntod-Definition."
Der Hirntod ist irreversibel. Im Zusammenspiel mit der modernen Intensivmedizin bestimmt er das Zeitfenster, in dem Organe entnommen werden können. Das Gehirn zerfällt bereits, das Herz aber wird noch künstlich am Leben gehalten. 1968 wurde der Hirntod in Harvard definiert. Ein Jahr zuvor war in Südafrika die erste Herztransplantation gelungen.
"Die Transplantationsmedizin operiert im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Konzept des Körpers als Objekt, in den ich als Arzt oder als Person selbst eingreifen kann, den ich nach meinen Vorstellungen verändern und verbessern kann, mit dem ich wie mit einem Objekt umgehen und den ich gestalten kann. Das heißt, ich werde dazu aufgefordert, einen rationalen Umgang mit dem Körper zu pflegen, den ich nach meinem Tod nicht mehr brauche und deshalb zu fremdnutzigen Zwecken zur Verfügung stellen kann."

Vera Kalitzkus, Anthropologin


"Das Sterben unter den Bedingungen einer Organentnahme ist ein deutlich anderes als ohne. Wenn die intensivmedizinischen Maßnahmen keinen Sinn mehr haben, weil man diesen Menschen nicht mehr ins Leben zurückholen kann, dann wird die Maschinerie zurückgefahren und der Mensch darf versterben. Wenn es zu einer Organspende kommen soll, muss dieser Prozess weiter aufrecht erhalten werden."
Nicht nur Geisteswissenschaftler wie Vera Kalitzkus kritisieren das Hirntod-Konzept. Auch von Medizinern gibt es immer wieder Stimmen, die den Hirntod nicht für das Ende, sondern für eine Etappe im Sterbeprozess halten.
Wann ist der Mensch tot? Auch der Ethikrat suchte eine Antwort auf diese Frage. Im Februar veröffentlichte er seine Stellungnahme ‘Hirntod und Entscheidung zur Organspende’. Für eine Minderheit von sieben der 26 Mitglieder ist mit dem Hirntod der Sterbeprozess noch nicht abgeschlossen. Dennoch sieht auch sie ihn als die geeignete Voraussetzung für eine Organentnahme an. Die Begründung: Der Hirntod ist unumkehrbar - die Organentnahme könne dem Spender also keiner Zukunft berauben. Und mit dem Hirntod sei auch das Schmerzempfinden ausgelöscht - die Organentnahme füge dem Spender also kein Leid zu.
Gebhard Focke: "Wenn man mir das gesagt hätte: Es gibt eine Hirntod-Diskussion. Ein Teil sagt: Der Hirntod ist der Tod des Menschen. Ein Teil sagt: Stimmt nicht. Dann wär für mich alles klar gewesen. Das hätte ich nie für einen anderen entscheiden können. Das hätte mein Sohn selbst entscheiden müssen. Hatte er aber nicht. Und das ist ja das Grund-Dilemma, dass man sich mit seinem eigenen Tod nicht beschäftigt, bevor es dann meist zu spät ist."
Marita Donauer: "Wir haben dann schon begriffen, dass der Hirntod der Tod ist und nicht eine Station im Sterbeprozess. Sondern er war tot. Die Augen haben nicht mehr reagiert. Ja, ... ich hab schon begriffen, dass er nur noch durch die Maschinen am Leben gehalten wird. Und dass da einfach nichts mehr ist."
Doch dieses Bild des künstlich beatmeten, lebendig aussehenden Menschen sollte nicht das letzte sein, das die Angehörigen mit nach Hause nehmen. Marita Donauer hatte das Glück, dass ihr und ihrer Familie Raum und Zeit für den Abschied von ihrem Bruder gegeben wurden.
"Wir haben dann vor der Organentnahme im kleinen Kreis eine Andacht gehalten mit ihm zusammen. Das war sehr tröstlich. Und wir durften uns auch nach der Organentnahme von ihm verabschieden. Er wurde dann aufgebahrt in einem separaten Raum. Der Arzt, der uns vorher schon begleitet hatte, war da, und die Koordinatorin von der DSO, und wir durften uns dann von ihm verabschieden und konnten uns auch davon überzeugen, dass sehr würdevoll mit ihm umgegangen worden war. Ich kann immer nur dafür plädieren: Ermöglicht den Angehörigen eine würdige Abschiednahme, das ist eine ganz wichtige Sache. Vorher ist das ja so ein bisschen abstrakt. Auf der einen Seite sieht man, es ist jemand gegangen oder man fühlt das. Aber er atmet ja, er atmet vermeintlich, durch die Maschinen. Und nach der Organentnahme ist es eine ganz normale Leiche. Das ist ein großer Unterschied. Dann ist der Tod real fassbar."
Wolfgang Ludwig, Nieren-Patient

"Ich hatte das Glück, einen sehr, sehr guten Arzt zu haben. Der hat als erstes Mal gesagt: Wir müssen jetzt zusammen alt werden. Und das war halt sehr schön."
Als 1985 seine Nieren versagen, ist Wolfgang Ludwig 25 Jahre alt. Fortan muss er drei Nächte in der Woche an die Dialyse, tagsüber arbeitet er Vollzeit als Ingenieur. 1991 bekommt er endlich eine Spenderniere.
"Das andere, was er mir nach der Transplantation gesagt hat: Du musst in Erlebnisse investieren. Alles, was Du an Erlebnissen mitnehmen kannst, kann Dir keiner mehr wegnehmen. Keiner weiß, wie lange Deine Niere hält. Du musst jetzt nicht den Rest Deines Lebens auf dem Sofa sitzen. Mach was draus. Und in gewisser Weise bist Du das ja auch dem Spender schuldig. Natürlich ist einem immer bewusst, dass ein anderer Mensch sein Organ zur Verfügung gestellt hat. Ich sag immer: Der ist nicht für mich gestorben, der wäre auch ohne Organspende gestorben. Aber man ist natürlich jeden Tag auch dankbar. Und bei mir sind das jetzt 25 Jahre, die ich in sehr, sehr guter Lebensqualität leben konnte."
Viele Organempfänger sprechen von ihrem ‘zweiten Leben’. Das Leben eines Gesunden wird es aber nie sein. Das gespendete Organ bleibt immer ein Fremdkörper, gegen den sich der Körper wehrt.
"Die Medikamente, die wir gegen die Organabstoßung bekommen, die sogenannten Immun-Suppressiva, ist halt doch was anderes als Kopfschmerztabletten. Und potente Medikamente haben halt auch potente Nebenwirkungen."
Wolfgang Ludwig engagiert sich: Beim Verein Transplant Kids, der Ferienfreizeiten für transplantierte Kinder und Jugendliche anbietet. Und bei ‘Radtour-pro-Organspende’, wo er mehrtägige Rundfahrten organisiert.
"Wenn man dann auf dem Fahrrad als Gruppe Transplantierter sitzt, hat 20, 25 Radler, die dann vielleicht über 200 geschenkte Jahre mit sich transportieren, dann erregt das natürlich in der Öffentlichkeit schon etwas Aufsehen. Der Sinn ist dann, dass die Leute, die das mitkriegen, sich mit diesem Thema beschäftigen."

Marita Donauer: "Wir waren völlig überrascht, dass ungefähr zwei Monate nach dem Tod meines Bruders ein Brief von der DSO kam und darin wurde uns mitgeteilt - in halbanonymer Form - wer die Organe bekommen hatte. Beispielsweise wurde einem 47-jährigen Mann das Herz transplantiert. Die Lunge wurde einem 40-jährigen Mann transplantiert, einem 38- jährigem Mann die Leber und so weiter. Da hat man schon irgendwo Personen vor Augen, ohne die zu kennen."
Sieben Menschen konnte geholfen werden. Marita Donauer hatte, was durchaus möglich ist, kein Organ von der Spende ausgeschlossen. Auch nicht die Lunge, obgleich sie davon ausging, dass sie nicht transplantiert werden könnte. Schließlich war der Bruder Kettenraucher.
"Und dann kam noch mal ein halbes Jahr später ausgerechnet vom Lungenempfänger ein Dankesschreiben, und das war sehr bewegend. Er hat geschrieben - er war 40 Jahre alt, er war schon immer lungenkrank - er hat seit seinem fünften Lebensjahr mal wieder richtig durchatmen können und das war was ganz Besonderes. Das gibt so ein Glücksgefühl. Für mich war das eigentlich auch der Moment, wo diese schlimme Trauer so ein bisschen sich gelöst hat und ich loslassen konnte. Ich wusste, dann war alles gut."

Gebhard Focke: "Das Herz ging an eine 50-jährige Frau in Dortmund, eine Niere an ein Mädchen in Holland und so weiter. Das hat mir geholfen im ersten Augenblick. Ein Vierteljahr etwa war das eine Möglichkeit, zu sagen: Ja, das Ganze hat doch diesen Sinn. Man hat Leben weitergegeben. Aber danach war das völlig weg."

Renate Focke: "Ich hatte dann Albträume, ganz schlimme Albträume, die mir zeigten, da stimmt was nicht. Und beim Aufwachen wieder: Es ist alles zu spät. Wir haben eine Entscheidung getroffen, die falsch war und wir müssen jetzt mit dieser Entscheidung irgendwie weiterleben."
Bis heute quält Renate und Gebhard Focke der Gedanke, ihrem Sohn beim Sterben nicht beigestanden zu haben. Alleingelassen und überflüssig fühlten sie sich im Krankenhaus. Da ist einiges schiefgelaufen. Wie Angehörige eine Organspende verarbeiten, hängt ganz entscheidend von der Betreuung vor, während und nach der Operation ab.
Anne Blaes-Eise: "Immer dann, wenn sie in der Akutsituation überredet wurden, nicht Herr ihrer Sinne waren, oder überhastet eine Entscheidung getroffen haben, dann haben sie danach Schwierigkeiten, mit dieser Entscheidung weiterzuleben."
Ein Styropor-Behälter zum Transport von zur Transplantation vorgesehenen Organen wird am 27.09.2012 in Berlin am Eingang eines OP-Saales vorbei getragen.
Ein Spenderorgan wird in einem keimfreien Behälter in ein Transplantationszentrum gebracht.© dpa / Soeren Stache
Seit 20 Jahren begleitet Anne Bärbel Blaes-Eise Angehörige, die einer Organspende zugestimmt haben und organisiert für sie Treffen mit Organempfängern. Auch wenn es nicht die Menschen sein dürfen, die das Herz oder die Leber ihres Nächsten tragen.
"Andere Länder sind etwas offener in dieser Richtung, haben auch keine schlechten Erfahrungen. Ja, die Deutschen sind in so was sehr strikt und haben Angst vor negativen Ereignissen, die denkbar sind, dass zum Beispiel zwei Familien aufeinandertreffen, die gar nicht miteinander können. Viele Angehörige knabbern an diesem Thema Anonymität, viel mehr Angehörige als Transplantierte, weil sie gerne wüssten: Wie ist der Mensch, der das Herz meines Sohnes oder meiner Tochter bekommen hat? Und wir bieten den Familien dann an, dass sie bei den Angehörigentreffen Empfänger kennenlernen können. Das sind andere Empfänger. Und das hilft eigentlich auch schon. Das beantwortet schon viele Fragen. Ich sehe da ein Kind, das hat eine neue Leber. Und ich kann mir dann theoretisch vorstellen, wie es dem Kind geht, dass die Leber meines Sohnes hat."
Für Anne Bärbel Blaes-Eise sind die Angehörigen die wahren Helden des Geschehens.
"Es wird sehr häufig in Medien über Menschen gesprochen, die auf ein Organ warten oder die glückliche Organempfänger sind. Aber wo sind die Menschen, die bei einem Familienangehörigen einer Organspende zugestimmt haben? Wo sind die Angehörigen der Organspender im Gesamtkomplex Transplantationsmedizin? Da haben wir auf jeden Fall Nachholbedarf in Deutschland, dass wir diese Menschen begleiten. Eine weitere Begleitung der Angehörigen ist ja bisher im Gesetz nicht vorgesehen. Die DSO übernimmt diese Aufgabe, weil wir einfach denken, das muss jemand machen. Vor allem, wenn eine Familie selbst entschieden hat, ohne den Willen des Verstorbenen zu kennen, dann muss man diese großherzige Entscheidung als Gesellschaft auch würdigen, weil ich finde schon, dass die Familie hier ein Opfer auch bringt."

Kevin Kerrutt: "Für sich selber steckt man sich einfach immer Ziele, so banal sie auch sind. Aber man muss immer Ziele haben. Mein Ziel zum Beispiel war jetzt erst mal ‘ne Wohnung, mit meiner Freundin zusammenziehen und ‘nen Job. Das hab ich geschafft. Dann war mein nächstes Ziel: neues Auto. Das hab ich jetzt geschafft. Dann vielleicht mal ‘ne Deutschlandreise machen, mal nach Hamburg fahren. Immer so kleine Ziele, wo man ein bisschen braucht, die zu erreichen, immer so den Schweinehund ein bisschen herausfordern, ja."
Kevin Kerrutt hat gelernt, mit großen Ungewissheiten zu leben. Wie lange wird das Kunstherz arbeiten? Wird er noch ein Spenderherz bekommen?
"Das nächste Ziel ist jetzt erst mal ‘ne größere Wohnung mit zwei Kinderzimmern (lacht). Ja, jetzt heute und morgen nicht, aber die nächsten Jahre schon so. Vielleicht in zwei, drei Jahren über Kinder nachdenken. Das ist auf jeden Fall noch ein Ziel. Das möchte ich auf jeden Fall noch machen. Ja, und dann natürlich im Schaukelstuhl vor meinen Enkeln noch mal erzählen, wie es war, wo ich jung war." (lacht)
Eine Organspende hat immer zwei Seiten: Geben und Nehmen, Trauer und Hoffnung, Sterben und Überleben. Selten ist das Schicksal zweier Menschen so existenziell miteinander verwoben. Das Herz, die Leber, die Lunge, die Nieren - bin ich bereit, im Falle meines Todes Organe zu spenden? Die Antwort muss jeder für sich finden. Die Anthropologin Vera Kalitzkus:
"Es gibt einen moralischen Druck pro Organspende. Das zeigt sich auch in der Wertung, die im 2012 verabschiedeten Transplantationsgesetz drinsteht, dass es ein Gesetz ist zur Förderung der Organspende. Da wird ja eine gesellschaftliche Norm gesetzt. Das heißt, ein Stück weit kommen die Menschen in Erklärungszwang, wenn sie sagen, ich möchte das aber nicht.
Was ich mir wünschen würde, wäre eine Diskussion in der Gesellschaft, die anerkennt, dass Menschen zu unterschiedlichen moralischen oder ethischen Schlussfolgerungen kommen. Und dass diese letzte Phase, die Sterbensphase eines Menschen, dass die einen geschützten Raum darstellen muss, wo es keine Verpflichtung von gesellschaftlicher Seite gibt."
Es gibt kein richtig oder falsch: Für die einen greift die Organspende in den intimen Prozess des Sterbens ein, für die anderen verleiht sie dem Tod einen Sinn, weil ein anderes Leben gerettet wird. In diesem Spannungsfeld gilt es, im Gespräch mit seinen Nächsten eine individuelle Entscheidung zu treffen - bevor andere es für einen tun müssen. Ein Ja im Organspende-Ausweis ist ebenso wichtig wie ein Nein. Entscheidend ist, sich überhaupt zu entscheiden.
Kevin Kerrutt: "Vor kurzem bin ich zum Stadtfest gewesen in Aue, im Erzgebirge, und da hatte ich dann auf einmal Herzflimmern, da musste ich ins Krankenhaus, da mussten die mich schocken. Das war wieder so ein Moment, wo ich dachte: Lange geht das nicht mehr gut. Es wird Zeit, dass ich ein Organ bekomme. Ja, und jetzt hilft nur noch Daumen drücken."

NACHTRAG: Nachdem Anfang 2016 ein Blutgerinnsel das Kunstherz verstopfte, konnte nur eine Not-Operation das Leben von Kevin Kerrutt retten. Mitte Februar kam er auf die Hochdringlichkeitsliste. Am 30. April war das Warten endlich vorbei: In den frühen Morgenstunden wurde Kevin Kerrutt ein Spenderherz transplantiert. Es geht ihm gut mit seinem neuen Herzen und er hofft, recht bald wieder ein relativ normales Leben führen zu können.