Open Mike in Berlin

Mit Türkenslang zum Sieg

Doris Anselm liest beim 22. Open Mike in Berlin.
Doris Anselm liest beim 22. Open Mike in Berlin. © gezett
Von Tobias Wenzel · 09.11.2014
Beim Open Mike in Berlin gab es einige skurrile Auftritte - und junge Autoren, die auftraten, als hätten sie den Literaturnobelpreis bereits in der Tasche. Für den Gewinnertext "Die Krieger des Königs Ying Zheng" legte Doris Anselm ihrer Hauptfigur Kanak Sprak in den Mund.
"Stand up for your rights."
Wenn ein Autor plötzlich seinen Text singt und ein Lektor mit seinen ganz persönlichen Auswahlkriterien überrascht:
"Ich hatte keine Ahnung, worum es in dem Text ging."
Wenn eine Autorin versucht, einen Mitleidsbonus zu kassieren:
"Tut mir Leid, dass ich nicht so gut gelesen habe. Aber ich hatte vor ein paar Tagen eine Blinddarm-OP."
Und wenn ein Gewinner allergisch gegen seinen Strauß zu sein scheint:
"Dieser Blumengeruch! Brrrr!"
... dann ist man beim Open Mike in Berlin. Rund 300 Zuhörer waren in den Heimathafen in Neukölln zur 22. Ausgabe des Wettlesens für Autoren unter 35 gekommen.
Platz für die ganze Welt
Eine Aversion gegen Blumen? Dabei hatte der in Frankfurt lebende Robert Stripling doch sein erstes gelesenes Prosagedicht ausrechnet in einem Blumenladen angesiedelt:
"'NIEMAND HAT DAS Recht, mich zu verletzen', sagt im Blumenladen eine Kinderstimme. Wie zwischen Pflanzen diese Jungs kichern; beiläufig, an einigen Sträußen nestelnd. Wie dieser Satz gesagt ist. Versteckt hinter Geranien, die von der Decke hängen."
In seinen Prosagedichten habe die ganze Welt Platz, vom Rehkitz bis zum Packeis, begründete Schriftstellerin Marion Poschmann stellvertretend für die gesamte Jury die Entscheidung, Stripling den Lyrik-Preis zuzusprechen. Mareike Schneider aus Hildesheim erhielt, in gleicher Dotierung, den Preis für ihren Prosatext über die Zeit mit einem Großvater vor dessen Tod.
Die Gewinner des Open Mike im Jahr 2014: Doris Anselm, Robert Stripling, Mareike Schneider und Gerasimos Bekas.
Die Gewinner des Open Mike im Jahr 2014: Doris Anselm, Robert Stripling, Mareike Schneider und Gerasimos Bekas.© gezett
Gerungen mit ihrer Entscheidung hatte diese Jury ebenso wie die Jury des Publikumspreises, den Gerasimos Bekas für seinen Text über ein Hospiz bekam. Nur beim wichtigsten Preis, den Autor Björn Kuhligk bekanntgab, waren sich die Juroren sofort einig:
"Den mit 3500 Euro dotierten Hauptpreis erhält Doris Demokratie deine Mutter Anselm."
Von einem Berliner Einkaufszentrum inspiriert
Doris Anselm, die beim RBB als Radioreporterin arbeitet, hat sich für ihren Text "Die Krieger des Königs Ying Zheng" von einem Berliner Einkaufszentrum inspirieren lassen und ihren jugendlichen Hauptfiguren die Kanak Sprak in den Mund gelegt. Sie sagen Sätze wie "Demokratie deine Mutter":
"Die Stimme von Center kommt, wenn du Fehler machst. Und wenn auch jemand was verliert. Ein Kind. Eine Tasche. Du kannst die Stimme gut verstehen. Center sagt nicht: Gleich passiert was komm hau ab du Missgeburt. Center sagt: Dies ist ein rauchfreies Center."
Mittlerweile kennt Doris Anselm alle Geschäfte des Berliner Einkaufzentrums. Über jeden einzelnen Laden könne sie eine weitere Geschichte schreiben. Der Preis motiviert sie jedenfalls zu mehr:
"Es ist so, als ob man plötzlich neue Freunde hat. Nicht im Sinne von: mit denen unternimmt man was. Sondern Menschen, die einen auf einer ganz tiefen Ebene verstanden haben. Und dass man das selber geschafft hat mit einem Text, den man selber geschrieben hat, den ich geschrieben habe, das ist mit keinem anderen Gefühl vergleichbar."
Die Lektoren, die aus den 622 Texteinsendungen die 22 Finalisten ausgewählt hatten, lobten das hohe Niveau der Texte und vor allem des Vortrags. In der Tat klang das oft sehr souverän. Allerdings konnte man sich auch darüber wundern, dass manche dieser jungen Autoren, die, den Regularien entsprechend, bisher kein Buch veröffentlicht haben, so sehr von sich selbst überzeugt schienen, als hätten sie schon den Nobelpreis in der Tasche.
Auffallend politisch
Dabei fiel einigen Autoren nichts anderes ein, als über den Literaturbetrieb und das eigene Produzieren zu schreiben. Viel spannender waren da zum Beispiel die Auseinandersetzung mit Problemen in der Familie und mit den Auswirkungen von Krieg und Flucht. Die Texte des 22. Open Mike waren auffallend politisch. Lektor Hans Jürgen Balmes wählte aus 100 Lyrik-Einsendungen sieben für das Wettlesen aus. Politische Verse waren allerdings nicht dabei:
"Das hat mir dann aber leidgetan, weil es oft Manuskripte dabei gab mit ein, zwei guten Texten, die dann aber leider immer in so eine politische Dogmatik abglitten, so dass man sie sich eigentlich, in dem Rahmen hier gelesen, nicht vorstellen konnte."
Lektoren und Juroren gingen äußerst wohlwollend und geradezu fürsorglich mit den Nachwuchsautoren um, waren ihre Mentoren. Juror Björn Kuhligk gab dann auch gleich ganz praktische Tipps:
"Seid eigenständig, bleibt eigenständig! Seid beweglich, bleibt beweglich! Holt euch Hilfe! Grenzt euch ab! Und vermeidet übermäßigen Kontakt zu Kritikern! Das macht hässlich. Kriecht niemanden in den Hintern und schleimt nicht! Das macht auch hässlich. Findet einen Job, der euch finanziell absichert! Verdient auf anderen Gebieten!"
Doris Anselm, der Gewinnerin des Hauptpreises, muss man das nicht mehr sagen. Sie wird weiter als Radioreporterin arbeiten und dabei dem Volk aufs Maul schauen. Und sie wird ganz sicher neue Texte präsentieren:
"Weil ich auch so nach der Philosophie arbeite: Wenn de wat verkoofen willst, musste was inne Auslage tun!"
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