Online-Mammutwerk mit Mitmach-Prinzip

Von Jürgen Bräunlein · 15.01.2011
Mittlerweile ist die Enzyklopädie Wikipedia das größte Nachschlagewerk der Welt. Alle sollen hier an allem mitschreiben können: Am 15. Januar 2001 ist das Projekt im Internet gestartet.
Am Anfang standen bildungspädagogischer Idealismus und Verdruss an kapitalistischen Geldgeschäften. Man schrieb das Jahr 1999. Jimmy Wales, 33jähriger Elite-Hochschulabsolvent aus Alabama, der als Börsianer und Geschäftsführer einer Internetfirma ein kleines Vermögen angehäuft hatte, fragte sich, ob das schon alles gewesen war. Da kam dem Internetfreak, der im freien Geist der Montessori-Pädagogik erzogen wurde, ein Einfall, der die Welt verändern sollte.

"Mir war aufgefallen, dass im Internet immer mehr freie Software auftaucht, Software, die nicht von Firmen verkauft wird, sondern bei der sich Programmierer rund um den Globus zusammentun, um Programme zu schreiben und weiterzuentwickeln. Diese Programme kann man dann kostenlos herunterladen und ich fragte mich, ob, sich dieses ehrenamtliche Prinzip nicht auf andere Bereiche übertragen ließe. Und da ich immer schon eine Leidenschaft für Enzyklopädien hatte, nahm ich mir vor ein kostenloses Online-Lexikon ins Leben zu rufen."

Wales investierte 500 000 Dollar in das Internet-Projekt "Nupedia", das im März 2000 startete. Zum Chefredakteur machte er den Philosophen Larry Singer. Beide Männer hatten im Usenet über Gott und die Welt debattiert und genau darum sollte es auch bei "Nupedia" gehen: den Aufbau einer Enzyklopädie, geschrieben von Experten. Doch das visionäre Unternehmen lahmte, die Qualitätshürden waren zu hoch. Wales und sein Mitstreiter unternahmen einen zweiten Versuch. Diesmal mit einer Software namens "Wiki", einem hawaiianischen Wort, das "schnell" bedeutet. Die frei zugängliche Online-Enzyklopädie "Wikipedia" startete am 15. Januar 2001 mit kaum mehr als hundert Einträgen. Ein Jahr später waren es bereits über 20.000. "Wikipedia", bis heute aus Spenden finanziert, funktioniert nach dem Mitmach-Prinzip. Pavel Richter, Geschäftsführer von Wikipedia Deutschland:

"Wikipedia ist eine Enzyklopädie, die von allen Menschen dieser Welt geschrieben werden kann. Wir laden Menschen ein, aktiv Artikel zu schreiben, zu verbessern, Zeit und Wissen und Informationen zu spenden und die Wikipedia besser zu machen."

Bei Wikipedia Deutschland sind derzeit über 600.000 Nutzer aktiv. Zwei Drittel aller Editierungen werden von nicht einmal 2000 Usern erstellt. Das Kollektivwerk, das als "work in progress" entsteht, hat seine Tücken. Was gehört in die Enzyklopädie und was nicht? Die "Inklusionisten" unter den "Wikipedianern" wollen jeden Artikel aufnehmen, solange er gut geschrieben ist. Die "Exklusionisten" hingegen beharren auf "Relevanz" und beißen sich an der Definition dieses Kriteriums die Zähne aus. Ein anderes Problem: Für die Aufbereitung eines komplexen Begriffes wird Fachwissen benötigt, über das die schreibenden Laien in der Regel nicht verfügen. Doch der Anspruch von Wikipedia ist hoch. Pavel Richter:

"Die Wikipedia hat sich verpflichtet, den aktuellen Stand der Wissenschaft darzustellen und der ist nicht mehrheitsfähig. Hier geht es also nicht darum, ob ein Argument von besonders vielen Menschen unterstützt wird, sondern es geht um die wissenschaftliche Genauigkeit und um die Belegbarkeit von Aussagen. Kürzlich hat jemand herausgefunden, dass der Rhein deutlich kürzer ist, als man gemeinhin gedacht hat. Es wird Jahre dauern, bis diese Änderung in allen Schulbüchern angekommen ist, weil diese Schulbücher nur alle paar Jahre erscheinen und auch im den gedruckten Lexika. Die Wikipedia hat es am Tag nach der Meldung, hatte der Rhein seine tatsächliche Größe."
Bei allem Nutzwert: Wikipedia-Artikel sind mit Vorsicht zu genießen. Immer wieder wurden dort Fehler entdeckt, die mitunter tagelang im Netz zu lesen waren, ehe sie korrigiert wurden. Auch sonst hat das Online-Mammutwerk manches Ärgernis in die Welt gebracht. Professoren klagen über Seminararbeiten, die nur aus Wikipedia-Artikeln erstellt wurden, selbst "Fachbücher" wurden schon auf diese Weise zusammenkopiert und leider auch gekauft. Heute umfasst Wikipedia 17 Millionen Artikel in über 250 Sprachen und wird monatlich von 400 Millionen Menschen weltweit genutzt. Begründer Jimmy Wales, den man schon den "Diderot aus Alabama" nennt, hat also ganze Arbeit geleistet.