Online-Beratungsangebot "U 25"

Junge Menschen helfen suizidgefährdeten Gleichaltrigen

Ein Mann sitzt an einem Fenster und schaut raus
Rund 10.000 Menschen nehmen sich in Deutschland jährlich das Leben. © imago/stock&people/Thomas Eisenhuth
Von Julia Weigelt · 25.09.2016
Das Hamburger Projekt "U25" richtet sich an Jugendliche mit Suizidgedanken. Das Besondere: Die Menschen, die die Hilfe anbieten, sind selbst noch sehr jung. Sie übernehmen früh eine große Verantwortung - mit Erfolg.
Projektleiterin Nina von Ohlen begrüßt die 19-jährige Tabea, die lächelnd ins Hamburger U25-Büro kommt. Die Studentin macht hier eine Ausbildung zur Peerberaterin. Wenn sie diese abgeschlossen hat, wird Tabea Mails von Gleichaltrigen lesen, die voller Verzweiflung und Angst sind. Und darauf antworten. Heute will sie sich zusammen mit anderen Freiwilligen darauf vorbereiten. Die Stimmung in der Lerngruppe ist gelöst, obwohl es um ein Thema geht, das viele Menschen sprachlos macht: Suizid.
Heute bespricht das Team Beispielmails, die so oder ähnlich immer wieder im U25-Onlinebriefkasten landen.
"Lies doch mal vor und dann schauen wir, was ist da los und wie können wir darauf antworten."
"Helpmail von Heiko, 16 Jahre: Hallo, ich weiß nicht mehr, was ich machen soll – ich hab Angst. Am liebsten wäre ich tot, dann kann mir keiner mehr wehtun und ich muss nicht mehr all das machen, was von mir verlangt wird. Ich möchte alles gut machen, aber ich schaffe es nicht so, wie meine Eltern das wollen..."
"Das ist so eine ganz klassische erste Mail. Ich würde euch bitten, schaut mal so drüber – was ist bei ihm los?"
Tabea überlegt kurz. Dann sagt sie:
"Ich glaube, er hat ein großes Problem mit seinem Selbstwertgefühl, weil er sich selber die Schuld gibt an allem und sich selbst so abwertet."

Rund 10.000 Menschen nehmen sich jährlich das Leben

Rund 10.000 Menschen nehmen sich nach Angaben des statistischen Bundesamtes jedes Jahr in Deutschland das Leben. Bei den Unter-25-Jährigen ist es die zweithäufigste Todesursache: Jeden Tag bringen sich zwei junge Menschen um. Dagegen wollen die Helfer von "U25" etwas tun. Leiterin Nina von Ohlen erklärt:
"Das Projekt U25 ist ein Online-Beratungsangebot für Jugendliche von Jugendlichen. Das ist auch das Besondere. Das heißt, Jugendliche, die in Krisen stecken, denen es ganz, ganz schlecht geht, schreiben uns. Und wir beraten Jugendliche."
Und zwar ausschließlich per E-Mail. Verzweifelte junge Menschen können sich auf der Internetseite www.u25-hamburg.de anmelden, ohne dabei den vollen Namen angeben zu müssen. Nina von Ohlen vermittelt dann einen der Peerberater. Die beiden schreiben sich, manchmal über Monate. Doch ganz alleine müssen sie ihr herausforderndes Ehrenamt nicht stemmen: Die Projektleiterin liest die ganze Zeit über mit und begleitet den Austausch beratend.
Doch wie hilfreich sind ein paar Mails, wenn ein Jugendlicher so verzweifelt ist, dass er sich umbringen will? Manchmal können sie Leben retten – weiß von Ohlen:
"Das ist eine wirkliche Hilfe – das ist entscheidend. Das ist oft der erste Schritt, dass Jugendliche sich in ein Hilfesystem bewegen."
Haben Sie selbst Gedanken, sich um das Thema Suizid drehen? Sprechen Sie mit anderen Menschen darüber. Hier finden Sie - auch anonyme - Hilfsangebote in vermeintlich ausweglosen Lebenslagen. Per Telefon, Chat, E-Mail oder im persönlichen Gespräch.
In eine Beratungsstelle zu gehen, trauen sich Jugendliche noch seltener als Erwachsene. Von Ohlen stellt klar: Ihre Helfer sind keine professionellen Therapeuten, sondern ehrenamtliche Berater. Sie hören zu, spenden Trost und ermutigen die Jugendlichen, weitere Hilfe anzunehmen.
Gegründet wurde das Projekt zur Online-Suizidprävention 2002 in Freiburg. Seit 2013 gibt es auch Teams in Hamburg, Berlin, Dresden und Gelsenkirchen. Das Angebot wird intensiv genutzt, es gibt sogar eine Warteliste. Rund 80 Betroffene erhalten beim Hamburger Ableger von [U25] pro Jahr Rat.
Drei Jahre lang wurde das Projekt von der katholischen Wohlfahrtsorganisation Caritas mit Geldern der Glücksspirale gefördert. Nach Angaben eines Sprechers haben alle Anträge eine begrenzte Projektlaufzeit; bereits bei der Beantragung war demnach klar, dass die Förderung im Herbst vergangenen Jahres auslaufen würde. Zu den Gründen, warum die Caritas das Projekt nicht mit Eigenmitteln weiterfördert, machte der Sprecher keine Angaben. Leiterin Nina von Ohlen sucht seit Monaten nach Sponsoren – bislang vergeblich.
Die jungen Peerberater setzen in der Zwischenzeit ihr ehrenamtliches Engagement fort. Mit den oft verstörenden Hilfemails kommen die Jugendlichen gut zurecht, sagt von Ohlen. In einer zweiwöchentlichen Supervision besprechen die Ehrenamtlichen ihr Erlebtes und bekommen Feedback.
Heute ist auch Patrick in der Ausbildungsrunde dabei. Der Student engagiert sich seit drei Jahren bei "U25". Er sagt zu der Beispielmail des fiktiven Heiko:
"Mir fällt auf, dass er am Anfang sagt, dass er Angst hat. Und da würde ich fragen: Wovor hat er genau Angst? Vor dem Tod, den er erwähnt, oder vor dem Druck, den er hat?"
Der 24-Jährige engagierte sich zuvor in der Obdachlosenhilfe, wo er viele Menschen mit psychischen Problemen kennenlernte. Hier bei "U25" hat Patrick schon vielen Jugendlichen geholfen. Und auch ihn selbst hat die Arbeit weitergebracht. Er achtet jetzt stärker darauf, wenn es Menschen in seinem Umfeld schlecht geht. Er spricht sie an und rät, Trauer und Ärger nicht in sich hineinzufressen. So offensiv war Patrick nicht immer.
"Ich bin auf jeden Fall auch mutiger geworden, über das Thema Depression oder auch allgemein über negative Emotionen zu sprechen. Trauer, Einsamkeit, Gewalt – darüber möchte man nicht so gerne sprechen, aber es ist wichtig. Sonst kann es sich aufstauen und irgendwann ist die Blase so voll, dass sie platzt."

Große Dankbarkeit

Und das kommt erschreckend häufig vor. Rund 40 junge Menschen versuchen in Deutschland jeden Tag, sich das Leben zu nehmen, wie Experten schätzen.
Doch wie kommt diese hohe Zahl zu Stande? Einer der Gründe liegt in der unbarmherzigen Leistungsgesellschaft, in der junge Menschen heute aufwachsen. Top-Noten in der Schule, Praktika im Ausland, fünf Sprachen fließend – außer Eltern und Arbeitgebern machen sich die jungen Leute auch selbst Druck, glaubt Peerberater Patrick. Ein Blick in soziale Netzwerke wie Facebook oder Instagram kann einem da noch den Rest geben:
"Das Leben ist auf jeden Fall nicht immer geil und es kann auch mal richtig scheiße sein. Und wenn du dann jeden Tag siehst: Der war jetzt eine Woche im Urlaub, und dann postet die Freundin vom Essen, wie toll das gerade ist, und du bist gerade in einer Phase, in der es dir nicht so gut geht, dann ist das schon ein starker Kontrast und kann einen ziemlich zurückwerfen."
Weniger vergleichen, seine Stärken schätzen lernen und einen liebevollen Umgang mit sich selbst pflegen – das raten die jungen Ehrenamtlichen ihren mutlosen Alterskollegen. Nebenbei entwickeln sie sich auch selbst weiter und lassen sich in Krisen nicht so leicht aus der Bahn werfen.
Die Dankbarkeit der "U25"-Nutzer ist riesig, wie etwa Jasmin auf der Internetseite des Projektes im Gästebuch schreibt:
"Ihr gebt uns Hoffnung und glaubt an uns. Das ist ein großes Geschenk in der heutigen Welt, in der jeder nur noch funktionieren muss. Ihr sorgt dafür, dass wir weiterleben wollen. Danke, U25."

Lassen Sie sich helfen: Haben Sie selbst Gedanken, die sich um das Thema Suizid drehen? Lassen Sie sich helfen und sprechen darüber. Hier erreichen Sie das Team von "U25". Anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar ist außerdem die Telefonseelsorge. Sie ist erreichbar unter 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222, aber auch per E-Mail und im  Chat.

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