Nicht verlassen, nicht verbittert

03.04.2012
Viel mehr als die "Frau an der Seite Kandinskys" - zum 50. Todestag von Gabriele Münter legt Gudrun Schury eine Würdigung der Künstlerin vor, die auf bekannte Zuschreibungen verzichtet und einen frischen Blick auf Leben und Werk wagt.
Zäh klebten die Etiketten an Gabriele Münter. Jahrzehntelang. An ihrem Werk: "warmherzig-fraulich" "intuitiv", "unbeschwert", "naiv". Und an ihrer Person: "Die Frau an der Seite Kandinskys". Dieses Label haftete besonders gut. Noch 1990 erschien die bis dahin wichtigste Darstellung von Münters Leben als "Biografie eines Paares". Zum 50. Todestag legt Gudrun Schury nun eine Würdigung der Künstlerin vor, die auf bekannte Zuschreibungen und gängige Interpretationen verzichtet und einen frischen Blick auf Leben und Werk wagt.

Ohne sich lange bei Herkunft und Elternhaus der 1877 in Berlin geborenen Münter aufzuhalten, beginnt die Biografin direkt mit der Schilderung ihrer künstlerischen Ausbildung. Und damit sind nicht nur die Studien in Düsseldorfer Privatateliers 1897 oder Münchner Damen-Schulen 1901 gemeint, sondern vor allem eine zweijährige USA-Reise (1898-1900). Diese Zeit explizit zur Ausbildung hinzuzurechnen, ist so originell wie überzeugend. Denn in den USA ging Münter durch eine eigene Schule des Sehens: mit ihrer Kodak Bull’s Eye No. 2 erlernte sie das Fotografieren (400 Aufnahmen sind dokumentiert) und entwickelte ein feines Gespür für Wahrnehmung, Komposition und Sujetwahl. Dadurch, so Schury, wurde die spätere "Meisterin von Linie und Flächenkomposition" nachhaltiger beeinflusst als durch "alle Düsseldorfer Ölgemälde und Gipsabgüsse zusammen".

Die Amerika-Reise illustriert zudem Experimentierfreude, Unerschrockenheit, Weltoffenheit und nicht zuletzt Neugier, Münters vielleicht hervorstechendste Eigenschaft. Mit Anfang 20, zu einer Zeit, als Fahrradfahren für Frauen als unschicklich galt, hatte sie sich also schon was ganz anderes getraut.

Zurück in Deutschland, begegnete sie 1902 Wassily Kandinsky. Was folgte, ist Kunstgeschichte. Schury beschreibt sie so gekonnt wie konventionell: die schwierige Beziehung der beiden, die gemeinsame künstlerische Entwicklung, die Zeit in Murnau mit Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky, Franz Marc und August Macke, die Gründung des Blauen Reiter, die Ausstellungen, Reisen und schließlich den Bruch.

Doch "es gab ein Leben danach", und diesem widmet Schury ebenso viel Raum. Bei ihr bleibt Münter nicht die Verlassene und Verbitterte, sondern findet nach einer Zeit der Leere wieder ihr Gleichgewicht. Sie wohnt und arbeitet in Skandinavien, sie reist viel, sie findet in Johannes Eichner einen zweiten Gefährten – mit dem sie bis zu ihrem Tod 1962 wieder in Murnau lebt – und sie wird von 1950 an wieder und neu entdeckt.

Eine Neuentdeckung der Münter ist Gudrun Schury nicht gelungen, aber sie setzt andere Gewichtungen und neue Akzente in diesem schon oft erzählten Leben und eröffnet somit tatsächlich einen freieren Blick auf die Künstlerin. Lobenswert auch, dass sie deren gesamtes Werk behandelt – insbesondere auch das grafische und fotografische –, und die Kunst frei von autobiografischen Zuschreibungen für sich sprechen lässt. So wird man Gabriele Münter am besten gerecht.

Gudrun Schury: Ich Weltkind. Gabriele Münter. Die Biografie
328 Seiten, 24,99 Euro
Aufbau Verlag, Berlin 2012
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