Neurezeption

Lieferant einer gesellschaftlichen Illusion

Von Friedhelm Lövenich · 06.04.2014
Ralf Dahrendorf nannte ihn einen "Ideologen der Neuen Rechten", den Soziologen Helmut Schelsky. Er formulierte die westdeutsche Sehnsucht nach einer Gesellschaft ohne soziale Konflikte. Auch ein CDU-Wahlkampfslogan ist mit auf seinem Acker gewachsen.
Er ist nicht nur als Soziologe, sondern selber auch soziologisch ein interessanter Fall. Hat Helmut Schelsky doch in seinem Leben nahezu alle Schwankungen der deutschen Gesellschaft im 20. Jahrhundert mitvollzogen:
vom Idealisten der Jugendbewegung zum jugendlichen Anhänger des Nationalsozialismus, dann über den konservativen Sozialdemokraten der Nachkriegszeit zum strukturkonservativen Verfechter einer formierten Gesellschaft und einer "geistig-moralischen Wende" nach den Sechziger Jahren.
So war er von seiner Geburt 1912 bis zu seinem Tod 1984 stets ein "Phänotyp der Epoche", der ihr freilich nie völlig verfallen war, sondern sie konservativ-kritisch begleitete, und damit nicht nur wissenschaftlich, sondern auch publizistisch Karriere machte, wie der Herausgeber des Bandes, der Chemnitzer Politikwissenschaftler Alexander Gallus, beschreibt:
"Während der so produktiven 1950er Jahre legte er u. a. wichtige Werke zur Soziologie der Familie, der Jugend, der Sexualität, der Arbeit und der Technik ... vor.
Alle diese Arbeiten waren nicht nur für die Nachkriegssoziologie fundamental, sondern immer auch intellektuelle Beiträge zur Auseinandersetzung um die bundesrepublikanische Politik und Gesellschaft.
[...] Schelsky stieg während der 1950er Jahre zu einem auf der Suche nach Öffentlichkeit nicht verlegenen ‘Star’-Soziologen auf – mit weit über die Grenzen der eigenen Disziplin ausstrahlender Wirkung."
Verfechter eines "Durchregierens"
Schelsky war seit 1932 Mitglied der SA und seit 1937 in der NSDAP. In dieser Zeit schrieb er auch seine Habilitation. Frank Schale, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Chemnitz, hebt in seinem Beitrag hervor, dass dem jungen wie dem älteren Soziologen, dem Anhänger einer "Konservativen Revolution" in der Weimarer Republik wie einer konservativen Erneuerung in den Siebziger Jahren, eines gleichermaßen wichtig war, dass Politik von Moral befreit sei:
"Wenn die Hobbes’sche Forderung, der Herrscher sei an Gerechtigkeit und Billigkeit gebunden, zur Kompetenz umgedeutet wird, selbst zu bestimmen, wann er Recht anwendet, dann kann dies nur die Preisgabe jeglicher Rechtsstaatlichkeit bedeuten. [...]
Jegliche Begründung von Recht wird zugunsten der durch keine Norm zu bremsenden totalen Ermächtigung des politischen Handelns abgelehnt. [...]
Handlungs- oder gar politische Freiheit kann es in dieser Perspektive nicht geben, zumal für die Gemeinschaft autonome Reflexion nur ein 'unsicherer Faktor' ist"
Sowohl in dieser nationalsozialistischen Phase wie auch in der des technokratischen Konservatismus erscheint ihm politische Rationalität vorwiegend als rein technische Orientierung an der Sachlage. Verfechter eines "Durchregierens", das Parlamente wahlweise umgeht oder entmachtet sowie Plebiszite verweigert, können sich durchaus auf Helmut Schelsky berufen.
Porträtfoto von Helmut Schelsky
Alexander Gallus (Hg): "Helmut Schelsky – der politische Anti-Soziologe"© Wallstein Verlag
Auch der Wahlkampfslogan der CDU von 1976: das berühmte "Freiheit statt Sozialismus", ist unter anderem auf Schelskys Acker gewachsen. Ellen Thümmler, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Chemnitz, widmet sich der Kritik an jenem Bild von Demokratie, wie es in der Zeit der Achtundsechziger-Proteste und der sozialliberalen Koalition Brandt-Scheel entworfen wurde.
Schelsky befürchtete damals, die Freiheit des Einzelnen würde der Gleichmacherei geopfert werden und unter die Räder einer linken "Priesterherrschaft der Intellektuellen" geraten. Insofern ist es recht passend, dass auf dem Umschlagfoto des Buches der ältere Schelsky ein wenig verwirrt und verdrießlich dreinschaut.
"Sein 'Gespenst' der Demokratie ist eine Erziehungsdiktatur unter der Herrschaft linker Intellektueller mit dem ideologischen Schwert der Demokratisierung aller menschlichen Lebensbereiche.
Jenem stellt er ein obrigkeitsstaatliches Ideal von Freiräumen sachverantwortlichen politischen Handelns sowie einer durch Gewaltenteilung und gegenseitige Kontrolle garantierten Neutralisierung von Machtpositionen gegenüber."
Wir sind ein Volk von Durchschnittssüchtigen
Weshalb der liberale Vordenker Ralf Dahrendorf seinen Kollegen einen "Ideologen der Neuen Rechten" nannte. Und noch heute wird unter Neu- und Jungkonservativen Schelskys Aversion gegen eine "Demokratie von unten" verfochten.
Interessant ist in diesem Zusammenhang der Gedanke, den Clemens Albrecht, Professor für Soziologie an der Universität Koblenz/Landau, in seinem Vortrag über Schelskys bekannten Begriff der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" leider nur kurz anspricht und nicht ausweitet.
Dieser Begriff habe der zum Zeitpunkt der "Stunde Null" vorgeblich geschichtslos gewordenen Bundesrepublik in den folgenden Jahrzehnten eine Art Einheitsideologie geliefert, an der sie sich in ihrem Selbstverständnis orientieren konnte.
Und dies im Prinzip, trotz aller "Befreiungen" in den Sechziger und Siebziger Jahren, bis heute: wir sind ein Volk von Durchschnittssüchtigen.
"Erst wenn man diesen kulturgeschichtlichen Kontext berücksichtigt, kann man verstehen, warum Helmut Schelskys These von der 'nivellierten Mittelstandsgesellschaft', 1953 zum ersten Mal formuliert, noch heute in den Schulbüchern steht; denn sie enthält ... ein kollektives Selbstverständnis. ... Ihre Wirkung gründet weit stärker in einem Ideal als in der Analyse sozialer Realität."
Schelskys Begriff formulierte die westdeutsche Sehnsucht nach einer in der Mitte zusammenwachsenden Gesellschaft ohne soziale Konflikte und lieferte damit eben jene gesellschaftliche Illusion, auf der bis heute die bundesrepublikanische Politik aufbaut. Eine große Koalition verkörpert diese Wunschvorstellung regierungstechnisch geradezu perfekt.
Ein empfehlenswertes Buch für alle, die nicht nur einiges über den Soziologen Schelsky, sondern – interessanter noch – über den westdeutschen Konservatismus und seine in der Grundausrichtung obrigkeitsstaatliche und technokratische Politik erfahren möchten.
Da dieser Sammelband die Vorträge einer wissenschaftlichen Fachtagung dokumentiert, hätte man gern auch die jeweils folgenden Diskussionen gelesen. Was ja mit der heutigen Technik leicht zu bewältigen gewesen wäre.
Die Quellenangabe der zitierten Titel:
1. Alexander Gallus: Schillernder Schelsky. Zur Einführung (Seite 7-16)
2. Frank Schale: Technische Steuerung und politischer Heros. Schelskys Hobbes-Interpretation (Seite 139-156)
3. Ellen Thümmler: Mehr Demokratie oder mehr Freiheit? Helmut Schelskys Demokratie der Sachlichkeit (Seite 206-220)
4. Clemens Albrecht: Reflexionsdefizit der Sozialstrukturanalyse? Helmut Schelsky und die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" (Seite 86-99)

Alexander Gallus (Hg): Helmut Schelsky – der politische Anti-Soziologe. Eine Neurezeption
Wallstein Verlag Göttingen, Oktober 2013
243 Seiten, 24,90 Euro

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