Neues Selbstbewusstsein

Von Heinz-Peter Katlewski · 15.07.2011
In Berlin wurde in der Union progressiver Juden ein neuer Vorstand gewählt. Mit der 41-jährigen Kulturwissenschaftlerin Sonja Guentner an der Spitze ist er jünger und weiblicher geworden.
"Wenn man sich erinnert, die ersten Gottesdienste, wir waren Menschen, die keine eigene liturgische Praxis hatten, gelegentlich in orthodoxe Gottesdienste gegangen sind, kaum einer von uns wusste, wie man einen Gottesdienst leitet, aber auch, wie man mitwirkt an einem Gottesdienst."

Jan Mühlstein – seit 1999 führte er den Verband der liberalen Gemeinden. Er war von Anfang an dabei, als sich Mitte der 90er-Jahre Juden aus ganz Deutschland trafen, um mit neuen Liturgien zu experimentieren, über jüdische Theologie und Philosophie zu diskutieren und Sabbatgottesdienste zu feiern, in denen Frauen und Männer in jeder Hinsicht gleichberechtigt sind.

Seit dem vergangenen Wochenende ist nun erstmals eine Frau an die Spitze der Union progressiver Juden gewählt worden: Sonja Guentner aus Köln. Sie arbeitete bereits in den vergangenen drei Jahren im von Jan Mühlstein geleiteten Vorstand mit:

"Ich habe sehr viel von ihm gelernt, und er ist mir da ein ganz großes Vorbild, in ganz vielen Dingen. Mit Sicherheit ist es so, dass es auch neue Akzente geben wird. Es wird ein insgesamt jüngerer Vorstand sein, und da werden die Fragestellungen und die Aspekte, die bei Entscheidungen wichtig sind, natürlich andere sein."

Die 41-jährige Kulturwissenschaftlerin ist beruflich Teil der Leitung der Internationalen Friedensschule, einer interreligiös und interkulturell ausgerichteten Privatschule in Köln. Im Unterschied zu ihrer ebenfalls neu ins Amt berufenen Stellvertreterin Deborah Tal-Rüttger aus Nordhessen gehört sie nicht mehr zur Gründergeneration der Union. Sonja Guentner war aber schon einige Jahre im Vorstand der Kölner liberalen Gemeinde Gescher LaMassoret, zuletzt als deren Vorsitzende.

"Ich bin auch ein Kind dieser Bewegung. Ich bin sehr verbunden mit der progressiven Bewegung in Deutschland, aber auch weltweit. Ich habe oft die Gelegenheit gehabt, bei Konferenzen mich zu vernetzen mit anderen Gemeinden."

Tatsächlich aufgewachsen in der Jugendbewegung der Liberalen ist die 29 Jahre alte Michelle Piccirillo. Die langjährige Vorsitzende von Jung und Jüdisch Deutschland soll künftig die Kultur- und Jugendarbeit der Union progressiver Juden koordinieren und dafür Impulse geben.

"Wir propagieren schon lange eigentlich, und da sage ich jetzt WIR als Jung und Jüdisch, unsere Wunschidee, dass man eben aus der Jugendbewegung in 'ne verantwortungsvolle Position bei der Union oder als Mitglied in einer der Unionsgemeinden aktiv wird. Und dafür möchte ich eigentlich gern ein Exempel sein und Ansprechpartner. Und ich würde gerne dafür werben, dass man sich in dieser Kontinuität bewegt."

Michelle Piccirillo ist die erste, der der Sprung aus der Jugendarbeit in den Vorstand gelungen ist. Zu den neu Gewählten gehört mit Walter Rothschild aber auch ein Rabbiner. Seine Kandidatur war umstritten – zum einen, weil jüdische Leitungsgremien in Deutschland traditionell von Laien gebildet werden, aber auch, weil Rothschild den Ruf hat, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Er wurde trotzdem gewählt.

Viele der Gemeindedelegierten setzen die Hoffnung in den schleswig-holsteinischen Landesrabbiner, dass er unter anderem bei den Kollegen in der Allgemeinen Rabbinerkonferenz beim Zentralrat der Juden mehr Unterstützung für kleine Unionsgemeinden und deren russischsprachigen Mitgliedern aushandeln kann.

Die Union progressiver Juden wird künftig wohl mehr Selbstbewusstsein an den Tag legen. Sonja Guentner:

"Ich bin sehr stark der Meinung, dass wir sehr viele Kräfte darauf verwenden müssen, entstehende Gemeinden zu unterstützen und dass wir auch alle Anstrengungen machen müssen, innerhalb unserer Bewegung die Pluralität des Judentums abzubilden und dafür zu sorgen, dass das progressive Judentum in Deutschland auch so stark und so vielfältig ist, wie es das in vielen anderen Ländern, in denen es eine kontinuierliche Geschichte genommen hat, ist."