Neue Bundesregierung muss Deutschland reformieren

Von Andreas Rinke · 30.09.2013
Ganz egal, wer regiert: Deutschland stehen große Reformen bevor. Die neue Bundesregierung muss den Fachkräftemangel managen, die Infrastruktur stärken, den Länderfinanzausgleich erneuern und die EU-Integration vorantreiben. Eine Herkulesaufgabe, meint Andreas Rinke.
Als Kanzlerin Angela Merkel die neue Unions-Bundestagsfraktion begrüßte, stimmte sie die Neuankömmlinge auf vier große Herausforderungen ein. Sie nannte Europa, den demografischen Wandel, die Beziehungen zwischen Bund und Ländern sowie die Erneuerung der Infrastruktur. Ganz ähnlich hatte sich SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück in Wahlkampf geäußert.

Tatsächlich steckt hinter diesen locker hingeworfenen Schlagworten eine ernste Warnung beider Politiker. Nach Jahren der europäischen Stabilisierung wird sich die Politik nun wieder energischer den Reformen im eigenen Land zuwenden müssen – egal, wer regiert. Denn ins Aufgabenbuch der neuen Regierung gehören ungewöhnlich dramatische Umbrüche.

Fachkräftemangel gefährdet deutsche Wirtschaftskraft
Der erste betrifft den Arbeitsmarkt: Die sinkende Arbeitslosigkeit verdecken nur die aufziehenden dunklen Wolken. In wenigen Jahren werden so viele Erwerbstätige aus dem Arbeitsleben ausscheiden und so wenige junge Menschen nachrücken, dass der Industriestandort Deutschland ernsthaft in Gefahr gerät.

Es klingt paradox, aber die stark sinkende Arbeitslosigkeit ist wegen der geringen Babyzahlen mindestens so bedrohlich wie die steigende. Denn bald werden die bisher Nicht- oder Unterbeschäftigten den Arbeitskräfteverlust nicht mehr ausgleichen können.

Die Folge: Kommen Arbeitskräfte nicht zu den Unternehmen, werden die Firmen dorthin gehen, wo sie Mitarbeiter finden – ins Ausland. Viel zu zögerlich ist den Deutschen bisher deutlich gemacht worden: Entweder sie zeugen wieder mehr Kinder oder sie müssen die Tore weit aufmachen für Einwanderer. Um zum erfolgreichen Integrations-Schmelztiegel zu werden, muss Deutschland aber sowohl gesetzgeberisch als auch mental noch erheblich verändert werden.

Marshallplan für eine gesamtdeutsche Infrastruktur
Dazu kommt, dass in dieser Legislaturperiode nichts weniger als die Vollendung der deutschen Einheit auf der Agenda steht. Nicht nur, dass die Differenz in Löhnen und Renten in Ost und West mit jedem Jahr untragbarer wird. Bund und Länder müssen in den kommenden vier Jahren auch eine Regelung für den 2019 auslaufenden Solidarpakt finden, der bisher eine besondere Förderung des Ostens vorsieht.

Die Alternativen sind ebenso klar wie schwierig: Entweder endet diese Sonderförderung oder der Solidarbeitrag muss für einen gesamtdeutschen, allein nach Bedürftigkeit ausgerichteten Infrastruktur-Marshallplan genutzt werden. Beides ist eine Herkulesaufgabe.

Reform des Länderfinanzausgleichs notwendig
Gleichzeitig sind noch der überholte Länderfinanzausgleich zu reformieren, die kommunale Finanzausstattung zu erneuern und die Zuständigkeiten für Bildung und Hochschulen neu zu justieren. Die Leitlinien sind dabei klar: Geld soll künftig dorthin fließen, wo es am nötigsten gebraucht wird. Und anders als bisher darf die Förderung künftig weder die Erfolgreichen bestrafen noch die unverantwortlich Wirtschaftenden belohnen.

Zudem wäre eine Grundgesetzänderung nötig, um Deutschland auf die nächsten Schritte der EU-Integration vorzubereiten. Denn bis auf die Euro-Gegner ist man sich eigentlich parteiübergreifend einig, dass die Kompetenzübertragung in der europäischen Finanz- und Haushaltspolitik langsam an die im Grundgesetz gesetzten Grenzen stößt. Da aber zumindest die Euro-Staaten immer enger zusammenrücken müssen und eine echte gemeinsame EU-Außenpolitik entstehen soll, braucht die nächste Bundesregierung mehr Spielraum. Es kann nicht sein, dass jede Anrufung des Bundesverfassungsgerichts zum Risikospiel für ganz Europa wird.

Damit sind nur die ganz großen Brocken für die nächsten vier Jahre erwähnt. Nötig sind weniger "Ruck-Reden" als vielmehr "Ruck-Reformen". Vielleicht sind die dafür absehbar schmerzhaften Kompromisse der eigentliche Grund, warum sich Parteien derzeit noch zieren mitzuregieren.

Andreas Rinke, Jahrgang 1961, ist ausgebildeter Historiker und hat über das Schicksal der französischen "Displaced Persons" im Zweiten Weltkrieg promoviert. Er hat als politischer Beobachter bei der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" und dem "Handelsblatt" gearbeitet. Heute ist er politischer Chefkorrespondent der internationalen Nachrichtenagentur "Reuters" in Berlin.
Mehr zum Thema