Neozoen

Tierische Neubürger

Ein Waschbär sitzt im Wildpark Grafenberger Wald in Düsseldorf auf einem Baum.
Der frisst alles, auch Schwalbenkinder: Der nordamerikanische Waschbär (Procyon lotor) ist in Europa heimisch geworden. © dpa / picture alliance / Horst Ossinger
Von Susanne Billig · 21.04.2015
Wie gefährlich sind ortsfremde Einwanderer für heimische Tierarten? Der mörderische Raubzug eines nordamerikanischen Waschbärs auf einer wertvollen Schwalbeninsel in Brandenburg alarmiert Vogelliebhaber − doch tierische Migration ist völlig normal.
Waschbären finden in Deutschland alles, was sie zum Leben brauchen, denn sie fressen so gut wie alles: Obst, Samen, Beeren, Schnecken, Amphibien und auch Fische. Zu Hause ist der Kleinbär eigentlich in Nordamerika, aber inzwischen leben nicht weniger als einhunderttausend wild in Europa, auch in Deutschland haben sich die Tiere flächendeckend etabliert.
"Neozoen" nennen Biologen solche tierischen Neubürger. Auch die Mandarinente, die Kanadagans, der Mink, freilebende Sittiche, die Wollhandkrabbe, viele Insekten und Amphibien gehören dazu. Doch was tun, wenn die Neubürger einheimische Arten gefährden? Hier Lösungen zu finden, ist gar nicht einfach - denn wenn sich die Einwanderer erst einmal so richtig zu Hause fühlen, wird man sie kaum wieder los.
60 Kilometer nordwestlich von Berlin. Hier erstreckt sich das Rhinluch, ein ausgedehntes Niedermoor. Teiche und Bruchwälder prägen die Landschaft, Wiesen voller Fieberklee und am Himmel die Rufe zahlloser Kraniche, Wildgänse und Blaukehlchen. Auf zwei künstlichen Inseln, in einem Teich von ehrenamtlichen Naturschützern aufwendig auf hölzerne Stelzen gebaut, brüten die seltenen Flussseeschwalben. Das heißt: Sie brüteten.
Norbert Schneeweiß, Leiter der Naturschutzstation:
"Das war Mitte Juni, gerade zu meinem Geburtstag, haben wir uns hier eine Exkursion gegönnt, durchs Teichgebiet. Eigentlich wollten wir die jungen Flussseeschwalben beobachten − und die Inseln waren leer! Das war also für alle Teilnehmer dieser Runde − alles Ornithologen, ehrenamtliche Naturschützer − alle waren geschockt, dass die Brutinsel völlig verwaist war. Und dann haben wir hier Aushänge gemacht überall im Teichgebiet und gefragt, ob jemand irgendwas beobachtet hat."
Neue Lebensräume erobern
Tatsächlich meldet sich ein Spaziergänger, der die mörderische Szene mit seinem Handy fotografiert hat:
"Man sieht dann tatsächlich, dass der Waschbär − mit Datum und allem drum und dran − genau zwei Tage vor unserer Exkursion komplett diese Inseln abgeräumt hat. Also sowohl Jungtiere gefangen, gefressen, zum Teil auch nur gekillt, hat auch Gelege gefressen, war dann auch in den Tagen danach immer mal wieder auf der Insel. Dazu muss er also bestimmt 20, 30 Meter schwimmend zurücklegen und an den senkrechten Pfählen, die aus dem Wasser hervorragen, hochklettern, das überwinden − und erst dann hat er Zugriff auf die Seeschwalben. Der Jagdinstinkt geht dann mit den Tieren durch und dann wird mehr getötet, als gefressen werden kann."
Der Waschbär also, bis zu zwölf Kilo schwer, intelligent und anpassungsfähig. Ursprünglich in Nordamerika zu Hause, gehört er zu den tierischen Neubürgern in Europa, den „Neozoen". Mittlerweile hat er ganz Deutschland erobert. Über eintausend weitere Tierarten aus fernen Ländern kommen hinzu, vor allem Insekten, Fische und Amphibien.
"Grundsätzlich wandern Arten", sagt Dirk Ehlert, der Wildtier-Sachverständige des Umweltsenats in Berlin:
"Das liegt in der Natur der Sache, man möchte neue Lebensräume erobern, das tun wir Menschen ja auch; der Trieb ist da, frei nach Darwin, nach neuen Lebensräumen zu suchen. Aber die Geschwindigkeit, mit der sich neue Tierarten verbreiten mit Hilfe der Menschen, ist natürlich gar nicht mit vor hundert Jahren zu vergleichen. Die meisten Tiere kommen tatsächlich mit Frachtgut nach Deutschland."
Flucht in der Gefangenschaft
Der tierische Migrant nimmt das Containerschiff oder das Flugzeug, der Klimawandel begünstigt den Umzug von Süd nach Nord. Häufig holt auch der Mensch Tiere aus Übersee aktiv ins Land, zum Beispiel den marderartigen Mink, um ihn als Pelztier zu züchten. Rette sich, wer kann, denkt das Tier − und entweicht. Biologen sprechen von "Gefangenschaftsflüchtlingen".
Jedes Jahr brechen hunderte exotische Tiere aus Terrarien aus oder überforderte Halter setzen sie einfach ans Freie. Die wenigsten Neozoen sind problematisch, doch manche haben es in sich: Die Miniermotte vernichtet weißblühende Kastanien, der riesige Ochsenfrosch frisst hiesigen Amphibien die Teiche leer, der Asiatische Marienkäfer − 2002 absichtlich gegen Blattläuse eingeführt − vermehrt sich explosionsartig und macht längst auch Nützlingen den Garaus.
Naturschützer fordern Gelder, um gefährliche Eindringlinge zu überwachen und Gegenstrategien auszutüfteln. Dirk Ehlert allerdings erinnert an den gefährlichsten Räuber:
"Es gibt nur ganz wenig Einzeltiere, die tatsächlich die heimischen Arten verdrängen. Vielmehr sind es wir selbst, die die einheimischen Arten kaputtmachen − durch zum Beispiel Vernichtung der Reproduktionsräume, durch die Vernichtung der Nahrungsgrundlagen, durch die Wegnahme der notwendigen Freiräume für diese Arten."
Je mehr Waschbären man erschießt...
Was aber tun, wenn sich eine gebietsfremde Tierart über alle Maßen vermehrt? Abschießen, mag der Laie denken. Doch bei Waschbären funktioniert das nicht: Je mehr man erschießt, umso fortpflanzungsfreudiger werden die Weibchen. Auch die Kontrolle von Schiffen und Flugzeugen auf blinde Passagiere hat wenig Sinn.
Dirk Ehlert: "Wie wollen Sie ein Insekt, was Sie gar nicht merken, aus dem Flugzeug herausfiltern, wenn Sie gar nicht wissen, ob es da ist und welcher Form es ist und wohin es wandert und woher es kam? Also schlichtweg: Es ist unmöglich. Und man kann auch sagen, man hat's aufgegeben. Bei den vielen Arten, die wir jedes Jahr neu dazubekommen, ist ja schon die Erfassung schwieriger als die Bekämpfung."
Auch im Herzen Brandenburgs gehört der Waschbär nun wohl dazu. Mittlerweile versuchen Naturschützer, die kostbaren Seeschwalbenkolonien friedlich vor dem Kleinbär zu schützen.
Norbert Schneeweiß: "Ja, wir haben also, nachdem das klar war, dass der Waschbär der Übeltäter war, in diesem Winter diese Inseln mit einer Elektrolitze versehen, und wie Sie da hinten sehen, durchs Fernglas zumindest kann man es gut erkennen, ist da ein kleiner Sonnenkollektor drauf, und ein kleiner Trafo mit einem Taktgeber, der den Zaun mit Strom versorgt. Und da hoffen wir, dass wir mit dem Stromzaun den Waschbär von dieser Insel fernhalten."
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