Natascha Kampusch

"Ich war von kalter Wut gepackt"

Natascha Kampusch bei einem Interview in Wien am 3. August 2016
Natascha Kampusch hat ein neues Buch veröffentlicht. © picture alliance/dpa/Peter Trykar
Moderation: Dieter Kassel · 23.08.2016
Vor zehn Jahren gelang Natascha Kampusch die Flucht aus dem Haus, in dem sie acht Jahre gefangen war. In dem Buch "10 Jahre Freiheit" schildert sie ihre Erfahrungen. Kampusch sagt, es sei sehr schwer, die Feindseligkeit zu ertragen, die ihr von vielen Seiten entgegenschlage.
Wie geht ein Mensch wie Natascha Kampusch damit um, Opfer einer schrecklichen Tat zu sein und dennoch nicht nur Mitgefühl zu bekommen, sondern auch offene Feindseligkeit?
Seit zehn Jahren versucht die heute 28-Jährige die traumatischen Jahre zu verarbeiten, die sie als Gefangene von Wolfgang Priklopil verbrachte. Sie hat ein Buch darüber geschrieben, ein Kinofilm ("3096 Tage") wurde über ihr Leben gedreht, jetzt hat sie ein zweites Buch veröffentlicht: "10 Jahre Freiheit". Fühlt sie sich heute wirklich frei? Natascha Kampusch sagte im Deutschlandradio Kultur:
"Hin und wieder ja. Zwischenzeitlich lange Strecken nicht unbedingt. Da war ich eher von einer kalten Wut gepackt, da habe ich mich nicht sehr wohl gefühlt, weil ich einfach nicht verstanden habe, wie andere Menschen so grausam sein können und mich auch noch dafür verurteilen, dass ich überlebt habe, und mich der Lüge bezichtigen."

Sie will mit allem abschließen

Ein Zeitlang habe sie "zurückgehasst". Offenbar habe sie für etliche Menschen als Schuldige herhalten müssen, weil der Täter nicht mehr lebe. Doch nun versuche sie einfach nur noch mit all dem abzuschließen.
Früher habe sie sich immer unwohl gefühlt, wenn sie in der Öffentlichkeit unterwegs gewesen sei oder in der Straßenbahn gesessen habe, wo sie von anderen erkannt worden sei. Sie habe sich wie eine Außenseiterin gefühlt.
Jedoch habe sie sich nie vorstellen können, eine neue Identität anzunehmen, wie es ihr empfohlen worden sei:
"Die zehn Jahre waren zwar hart. Aber ich wollte nicht nachgeben. Ich wollte mir nicht von irgendjemandem vorschreiben lassen und schon gar nicht von der breiten Masse, dass ich meine Identität zu ändern hätte."

Sie wird nie ihren Namen wechseln

Schon der Entführer habe versucht, ihr ihre Identität zu rauben und ihr einen anderen Namen zu geben. Deshalb sei sie fest entschlossen, den Namen, der im Geburtenregister eingetragen sei, bis an ihr Lebensende zu behalten.
Natascha Kampusch sagte weiter, sie wehre sich ebenso gegen die Kritik Außenstehender, die nicht verstehen könnten, warum sie Haus und Grundstück nicht längst verkauft habe, in dem sie von Priklopil gefangen gehalten worden war und das ihr heute gehört.
Kampusch betonte, sie sei entschlossen, nach vorne zu schauen und weiter Bücher zu schreiben.
Der Trailer des Kinofilms "3096" Tage von Sherry Horman

Natascha Kampusch mit Heike Gronemeier: "10 Jahre Freiheit"
List Verlag, 2016, 240 Seiten, 19,99 Euro



Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Am 23. August 2006 gelang es der damals 18-jährigen Natascha Kampusch, sich aus der Gefangenschaft ihres Entführers Wolfgang Priklopil zu befreien. Damit endete einer der spektakulärsten Kriminalfälle nicht nur der österreichischen Geschichte, aber für sie endete dieser Fall damit natürlich nicht wirklich. Viele Menschen beschäftigen sich noch heute mit zahlreichen Verschwörungstheorien rund um diesen Fall, und die Kampusch blieb bis heute eine öffentliche Person. Über das, was sie in den vergangenen zehn Jahren erlebt hat, hat sie nun ein neues Buch geschrieben – "10 Jahre Freiheit" heißt es, und über dieses Buch und diese zehn Jahre wollen wir uns nun mit ihr unterhalten. Schönen guten Morgen, Frau Kampusch!
Natascha Kampusch: Ja, schönen guten Morgen!
Kassel: Sie erwähnen auch in diesem Buch das erste Fernsehinterview, das Sie nach Ihrer Selbstbefreiung gegeben haben, Fernsehinterview mit dem ORF, damals noch in der Klinik in Wien, und damals lautete die allererste Frage an Sie, wie geht es Ihnen, und Sie haben damals nach kurzem Zögern geantwortet, na ja, den Umständen entsprechend gut. Wenn ich Sie das jetzt zehn Jahre später noch mal frage, wie geht es Ihnen heute, wie lautet die Antwort jetzt?
Kampusch: Also ich würde sagen, mir geht es auch gut je nach Situation. Also würde ich genau die gleiche Antwort geben wie damals. Nur die Umstände haben sich geändert.
Kassel: Aber wie haben sie sich geändert? Sie haben dem Buch ja den Titel gegeben "10 Jahre Freiheit", aber nachdem ich das gelesen habe, hatte ich gemischte Gefühle. Haben Sie sich in den zehn Jahren, den vergangenen, wirklich als freier Mensch empfunden?
Kampusch: Hin und wieder ja. Zwischenzeitlich, lange Strecken nicht unbedingt. Da war ich eher von einer kalten Wut gepackt, da habe ich mich nicht sehr wohl gefühlt, weil ich einfach nicht verstanden habe, wie andere Menschen so grausam sein können und mich dann noch dafür verurteilen, dass ich überlebt habe und mich der Lüge bezichtigen. Das war für mich einfach nur schrecklich. Also, ja.
Kassel: Aber kann man damit überhaupt umgehen, wenn man so etwas erlebt hat wie Sie? Also mir wäre es so gegangen. Da hätte ich geglaubt, man kann doch nichts anderes haben als Mitgefühl mit mir, und dann zu erleben – Sie beschreiben das in Ihrem Buch, dass man auch wirklich Hass erlebt.
Kampusch: Ja, ich habe es auch nicht verstanden. Es war am Anfang sehr befremdlich. Ich musste das erst irgendwie verarbeiten. Dann habe ich die Leute auch zurückgehasst, aber das hat auch nicht so viel geholfen. Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich ist es einfach Unverständnis. Vielleicht haben die Leute selbst Probleme oder sehen sich irgendwie angegriffen oder sie wollten eine Schuldige, und das war eben ich, weil der Täter nicht mehr greifbar war. Vielleicht.

Verschwörungstheoriern kursieren

Kassel: Es gibt ja, es gibt viele Varianten, aber es gibt zwei große Verschwörungsgeschichten, an die manche Leute immer noch glauben. Die eine ist, Sie seien eben nicht nur Opfer gewesen, sondern hätten mit dem Täter unter einer Decke gesteckt, und die andere Verschwörungsgeschichte lautet, er war nicht allein, da gibt es irgendwelche Hintermänner. Dieser Prozess rund um Ihren Fall ist zweimal noch wieder aufgerollt worden. Man hat dann insgesamt dreimal festgestellt, dass das Unsinn ist. Sie waren Opfer, und es war ein Einzeltäter. Das Gericht ist sich da sicher, aber glauben Sie wirklich daran, dass Sie diese Verschwörungstheorien je wirklich loswerden können?
Kampusch: Das weiß ich nicht. Ich kann es nur innerlich loswerden, also für mich privat einfach damit abschließen, aber ob diese Leute weiterexistieren und weiter Verschwörungstheorien verbreiten, das kann ich natürlich nicht kontrollieren und auch nicht überwachen, ob es dann noch in zehn Jahren oder in 20 Jahren so sein wird. Wenn die das so wollen, dann wird es unendlich lange andauern, aber genauso habe ich es in der Hand, einfach zu sagen, mich interessiert das nicht mehr.
Kassel: Aber kann es Sie wirklich nicht interessieren? Ist es nicht so, dass Sie, wenn Sie durch Wien laufen und von Leuten komisch angeguckt werden, die Menschen wissen nun mal, wie Sie aussehen – ich unterstelle, Sie werden oft erkannt –, dass Sie sich dann doch fragen, was geht dem, der mir da in der Straßenbahn gegenübersitzt, gerade durch den Kopf?
Kampusch: Ja, also das war eine lange Zeit lang wirklich so, dass ich oft dachte, was geht den Leuten durch den Kopf, bis ich mir gedacht habe, nein, ich möchte mein Leben nicht mehr davon abhängig machen. Ich möchte nicht mehr rausgehen und das Gefühl haben, ich setze mich in den Bus oder in die Straßenbahn und weiß nicht, ob die Leute mir wohlgesonnen sind. Ich kam mir vor, als würde ich in irgendein fremdes Dorf irgendwo am Land verschlagen worden sein, wo alle über mich reden, weil ich eben so eine Außenseiterin bin. Das wollte ich nicht mehr. Jetzt kann ich einfach in den Bus oder in die Straßenbahn steigen und denke mir einfach, ich suche mir irgendwelche Fixpunkte oder Leute, die sympathisch wirken und denke mir, die nehmen das Beste von mir an und sind meine besten Freunde im besten Fall.

Sie will sich nicht die Identität rauben lassen

Kassel: Die österreichischen Behörden haben Ihnen damals, kurz nach Ihrer Selbstbefreiung, ja auch angeboten, eine neue Identität anzunehmen und sozusagen anonym abzutauchen, und dazu sagen Sie in Ihrem Buch, ich wollte das aber nicht, ich wollte nicht Frau Meyer aus Linz werden. Wenn Sie jetzt zurückblicken auf die letzten zehn Jahre – war das vielleicht ein Fehler, wäre das vielleicht klüger gewesen?
Kampusch: Ich denke nicht. Also die zehn Jahre waren zwar hart, aber ich wollte nicht nachgeben. Ich wollte mir nicht von irgendjemanden vorschreiben lassen, und schon gar nicht von der breiten Masse, dass ich meine Identität zu ändern hatte. Der Entführer hat mir ja bereits versucht, mich kleinzukriegen und mir einen anderen Namen zu verpassen und meine Identität zu rauben, und ich wollte das nie. Ich bin nach meiner Geburt so eingetragen worden unter meinem Namen, und den möchte ich auch noch bis zu meinem Tod behalten. Und, ja, davon bringt mich niemand ab. Das ist meine Identität, von der lasse ich auch nicht ab.
Kassel: Nun gehört es zu Ihrer Identität, zu Ihrem Leben eben auch, dass Sie fast achteinhalb Jahre lang eingesperrt waren und Entführungsopfer waren, und dieses Haus, in dem Sie damals festgehalten wurden, das gehört Ihnen ja nun schon seit vielen Jahren, und Sie werden auch immer wieder dafür angefeindet in der Öffentlichkeit, dass Sie es immer noch besitzen, nie verkauft haben und dass Sie – Sie geben das auch in Ihrem Buch zu – ja auch immer wieder dahinfahren, dass dieser Ort Sie offenbar nicht loslässt. Können Sie das erklären?
Kampusch: Ich kann es zum einen daraus erklären, dass es sich geografisch so ergibt, dass es nicht zu weit weg war von dem Ort, an dem ich zuvor aufwuchs und dass ich natürlich dort auch Bekannte, Verwandte und Freunde habe in der Nähe, aber es hat auch viel damit zu tun, dass ich oft auch einfach hinmuss, weil die Gemeinde etwas möchte, weil sie den Wasserzähler ablesen wollen, weil ich irgendetwas reparieren lassen muss.
Kassel: Aber jemand, der das nicht erlebt hat, was Sie erlebt haben, glaubt natürlich, ich glaube das auch, wenn mir sowas passiert wäre, ich hätte dieses Haus bei erster Gelegenheit verkauft. Warum kam das für Sie nie infrage?
Kampusch: Ja, also ich denk mir oft, wenn ich zum Beispiel Abfahrtsläufe im Fernsehen sehe, na, ich hätte das besser gekonnt, aber ich bin nicht so komptent und habe auch nicht so lange trainiert wie die Abfahrtsläufer oder Abfahrtsläuferinnen, und deswegen halte ich mich da zurück, und ich würde das auch diesen Leuten empfehlen, weil, natürlich, von außen gesehen ist alles ganz leicht, aber wenn man dann einmal in dieser Situation ist, dass man so etwas, also dieses Haus besitzt, dann ist es ja auch nicht einfach irgendein Haus. Dann merkt man erst, wie schwierig das ist. Also wer würde überhaupt dort wohnen wollen, wie viel Wert hat das Haus, wie viel Wert besitzt das Grundstück, wäre das eine angemessen Entschädigung, was passiert dann danach mit dem Haus, wer ist der Nachbesitzer. Das sind alles so Fragen, über die ich nicht so leichtfertig hinwegsehen möchte und auch nicht kann.
Kassel: Seit zehn Jahren sind Sie nun in Freiheit, so heißt ja auch Ihr Buch, aber Sie sind ja immer noch ein sehr, sehr junger Mensch, sind 28 jetzt. Wenn Sie darüber nachdenken, kann ja niemand in die Zukunft schauen, aber wie stellen Sie sich Ihr Leben in zehn oder in 20 Jahren vor?

Neue Projekte sind geplant

Kampusch: Also ich stelle mir das so vor, dass ich an mir selbst gearbeitet haben werde und sehr viele Projekte in die Tat umgesetzt haben werde, dass ich sage, ich bin noch mehr im Leben angekommen, noch gefestigter und selbstbewusster. Also das wünsche ich mir auf jeden Fall, und in 20 Jahren kann gut sein, dass ich da schon sehr viele Bücher auch geschrieben haben werde, und in einer angenehmen Atmosphäre lebe mit Freunden und Verwandten um mich herum.
Kassel: Frau Kampusch, ich wünsche Ihnen, dass das alles in Erfüllung geht und danke Ihnen sehr für das Gespräch heute!
Kampusch: Danke schön!
Kassel: Natascha Kampusch war das, die, wie sie gerade erzählt hat, vielleicht bald noch viel mehr Bücher schreiben wird, aber ihr aktuelles Buch, das jetzt auch in Deutschland erhältlich ist über die zehn Jahre, die sie jetzt mehr oder weniger, wage ich mal zu sagen, in Freiheit verbracht hat – das heißt auch so, "10 Jahre Freiheit" –, und ist auch bei uns erschienen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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