Nachkriegsgeschichte

Gab es wirklich eine Stunde Null?

Blick auf einen Linienbus im zerstörten Berlin der Nachkriegszeit (undatiertes Archivbild von 1945).
Das Kriegsende bedeutete für Berlin Zerstörung, aber gleichzeitig auch schon Neuanfang. © picture alliance / dpa
Von Eike Gebhardt · 23.02.2015
Für sein Buch "45 - Die Welt am Wendepunkt" hat der Publizist Ian Buruma Geschichten aus Europa und Asien zusammengetragen und so ein Bild dieser dramatischen Zeit zusammengefügt. Die Folgen des Zweiten Weltkrieges wirkten weit in die Nachkriegszeit hinein. Das versucht Buruma mit seinem kulturübergreifenden Geschichtsbild nachzuweisen.
Der Zweite Weltkrieg endete nicht im Mai '45 - die vielzitierte Stunde Null galt ohnehin nur für die Deutschen, und auch dieser Begriff war wohl eher der Versuch einer Mythisierung. Denn nicht nur hielt sich der Zeitgeist der ersten Jahrhunderthälfte hierzulande noch lange zäh am Leben, wie Hannah Arendt noch in den 50er-Jahren entgeistert beobachtete; auch die konkreten Problemfolgen wirkten weit in die Nachkriegszeit hinein, mitunter über Jahrzehnte, wie Buruma in seinem kulturübergreifenden Geschichtsbild nachweist und nachzeichnet - in vielen dichten, oft filmreifen Kurz-Szenarien vor dem Hintergrund der großen historischen Entscheidungen, die er bewundernswert parallel zu führen weiß.
Vor allem das Schicksal der sogenannten "Displaced Persons", der modernen "Sans Papiers", verweist auf Lücken oder gar Fehlkonstruktionen der staatlichen Verfassungen. Es sind zumeist jene, die bei der Neuordnung der Grenzen Europas plötzlich in mehr als dem sentimentalen Sinn heimatlos wurden, keinerlei Ausweispapiere eines existierenden Staats mehr hatten und damit niemanden, der für sie zuständig oder gar verantwortlich war. Mehr als acht Millionen Entwurzelte, in ganz Europa nomadisierende, nirgends willkommene, nicht selten sogar Bedrohte wurden oft als unangenehme Mahnung oder gar als Problem und Störung des verdrängungsfreudigen Wiederaufbaus gesehen - selbst in aufgeklärteren Kreisen, wie Buruma in subtilen Hintergrundanalysen ausweist.
Blindheit der Täter
Historiker mögen Buruma mangelnde Tiefenanalyse einzelner Entwicklungslinien vorwerfen, aber seine exemplarischen, lebhaft erzählten oder zitierten Szenen lassen sich weiterdenken zu ganzen Dramaturgien - zumal er die Erlebnisse der Betroffenen oft mit der psychologischen Naivität der Befreier, also der neuen Machthaber konfrontiert, in deren Weltbild die Leichenberge wie die verstockte Blindheit der Täter, die sich als Opfer sahen, unvorstellbar schienen.
Und natürlich beschränkt sich der Asien-Experte Buruma nicht auf Europa. Auch das Nachwirken der genozidalen Selbstgerechtigkeit der japanischen Herrenrasse, die vergleichbar bestialisch in China und anderen Ländern wütete, wird bis in die Gegenwart verfolgt.
Mit bewundernswerter Zurückhaltung lässt der Autor die Entwicklungen in den verschiedenen Ländern Revue passieren. Selbst für das Rache-Bedürfnis zeigt er Verständnis, das sich oft an Unschuldigen austobte oder, in vielen Fällen, nur die eigene Gewissenspein über faule Kompromisse mit den Nazis, oder gar die stille Kooperation, auf neue (und manchmal die alten) Opfer umleitete - von den polnischen Pogromen bis zur öffentlichen Schändung wahrer oder angeblicher Kollaborateure in Frankreich. Und auch die moralische Gleichgültigkeit, ja Selbstgerechtigkeit der amerikanischen und britischen Bomberpiloten wird nicht ausgespart.
So fügen sich Burumas Bühnenbilder mit ihrer unaufdringlich und unparteiisch empathischen Psychologie zu einer spannenden Mentalitätsgeschichte der Nachkriegswelt.

Ian Buruma: '45 - Die Welt am Wendepunkt
Carl Hanser Verlag, München
432 Seiten, 26 Euro

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