Nachbarschaft als Herausforderung

Wenn nebenan Krachmaninoff plärrt

Illustration: Bewohner eines Mehrfamilienhauses machen Lärm
"Das Ruhebedürfnis fußt auf uraltem Revierverhalten, das den Menschen zum merkwürdigen Nachbarn machen kann", schreibt Peter Glaser. © imago/Ikon Images
Von Peter Glaser · 09.03.2017
Nähe zu Menschen ist ein Grundbedürfnis - allerdings nicht, wenn es die Nachbarn sind. Peter Glaser lotet das Störpotential von Aneinanderwohnenden aus.
Wäre Deutschland direkt nach dem Urknall entstanden, hätte es erstmal Anzeigen wegen Ruhestörung gehagelt. Lärm rangiert im Ranking der häufigsten Auslöser für Nachbarschaftsstreits an erster Stelle. "Allmorgendlich versammeln sich zwei singende Klavierspielerinnen und sechs Hunde in meinem Zimmer", hielt Kurt Tucholsky 1925 fest, "Und sie zerstören das Beste: die Ruhe."
Der technische Fortschritt, der Aneinanderwohnende mit segensreichen Dingen wie Kopfhörer ausstattete, zeigt aber auch immer eine brachiale Seite. So konstruierte ein notorischer Nachbar in der Nordheide eine "Lärm-Rückwurf-Anlage". Übersteigen die Geräusche eine bestimmte Phonschwelle, nimmt das Gerät sie auf und schickt sie über Lautsprecher zum Verursacher zurück.

Revierhalten ist stärker als alle Vernunft

Es gibt eine Geschichte, in der Donald Duck in die ruhigste Gegend von Entenhausen zieht, über ihm ein pensionierter Schweizer Käsekoster, neben ihm ein Schriftsteller, der zum Schreiben noch Gänsefedern benutzt. Als die Schuhsohlen des Dichters knarren, eskaliert eine Lärm- und Gegenlärmspirale bis hin zu, Zitat: "Basso Bompopoff von Krachmaninoff, auch nicht grad ein Schlummerliedchen!", sowie Schneeketten, die donnernd durch einen Lüftungsschacht gezogen werden. Schließlich greift der Käsekoster zum Alphorn.
Das Ruhebedürfnis fußt auf uraltem Revierverhalten, das den Menschen zum merkwürdigen Nachbarn machen kann. Biologen haben ein Experiment mit Fischen durchgeführt, bei dem die Temperatur in einem Aquarium schrittweise reduziert wurde. Bemerkenswert war, dass, sogar nachdem der Sexualtrieb erkaltet war, das Revierverhalten immer noch funktionierte.
Warum gibt es heute, mitten im Internet-Zeitalter, keine Online-Nachbarschaftsforen, obwohl sich sowas ganz einfach einrichten ließe? Weil man sich damit zu schnell zu nahe käme. Liebe ist eine Kunst der Nähe, so wie Freundschaft eine Kunst der Entfernung ist, und irgendwo dazwischen oszilliert, wie rätselhafte Quantenbewegungen, die Nachbarschaftlichkeit.

Nachbarn erreicht man per Zettel, nicht über Facebook

Stattdessen gibt es Zettel, die in Hausfluren und sonstwo kleben: "Liebe Einbrecher, hier nix holen, wir auch arm. Besser Grunewald." In seinem wundervollen Blog "Notes of Berlin" zeigt der Ex-Münchner Joab Nist, dass diese analogen Zettel gegenüber dem blanken Internet Vorteile haben, die sie unverzichtbar machen. Sie sind ein Kiez-Kommunikationsmittel. Man erreicht zwar vielleicht weniger Leute, aber die richtigen. "Wenn Sie Streit mit dem Nachbarn haben, posten Sie das nicht auf Facebook", so Nist, "sondern schreiben halt einen Zettel."
In dieser Größen- besser: Kleinstordnung versagt die digitale Kommunikation. Und das ist auch gut so, wie ein tröstliches Beispiel deeskalierender Nahkommunikation aus England zeigt. "Maulwurfmann" nannten seine Nachbarn den 2010 verstorbenen William Lyttle. Von seinem Haus im Londoner Stadtteil Hackney aus grub er seit den späten Sechzigerjahren Tunnel. Er behauptete, er habe sich ursprünglich einen Weinkeller ausheben wollen, der im Lauf der Zeit nur etwas größer geworden sei. Gelegentlich brach der Gehsteig vor dem Haus ein, und man konnte in die hohle Unterwelt blicken.
Und wie reagierte die Umgebung? Britisch, nämlich mit Verständnis für exzentrische Mitmenschen: "Wir möchten nicht", sagte ein Nachbar, "dass diesem Mann etwas Böses geschieht. Er arbeitet hart. Bedauerlicherweise setzt er seine Energien nicht in die richtige Richtung ein.”

Peter Glaser schreibt über sich: "1957 als Bleistift in Graz geboren. Lebt als Schreibprogramm in Berlin." Glaser ist Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Bachmann-Preisträger und begleitet seit drei Jahrzehnten die Entwicklung der digitalen Welt. Sein Blog: "Glaserei".

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