Nach dem Brexit

Keine Angst vor dem Volk!

Ein Plakat mit Kariakturen von Donald Trump und Boris Johnson, die durchgestrichen sind. Andere Plakate zeigen die Aufschrit "No Borders".
Proteste gegen Boris Johnson in London. © dpa/ Sputnik / Alex Mcnaughton
Patrizia Nanz im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 01.07.2016
Die Lehre, die manche aus dem Brexit-Votum ziehen, lautet schlicht: keine Volkabstimmungen mehr! Dem widerspricht die Politikwissenschaftlerin Patrizia Nanz. Es sei absolut richtig, das Volk entscheiden zu lassen. Nur habe man die falsche Frage gestellt.
Nach dem Brexit-Votum fragen sich viele, ob es nicht grundsätzlich falsch sei, das Volk über so wichtige Fragen entscheiden zu lassen wie den Verbleib in der EU.
Die Potsdamer Politikwissenschaftlerin und Expertin für Bürgerbeteiligung, Patrizia Nanz, findet es dagegen "absolut richtig", das Volk zu befragen. Allerdings sei es keine gute Idee gewesen, "über komplexe Zukunftsagenden mit einem Ja/Nein entscheiden zu lassen". Dadurch hätten die Bürger nur die Alternative zwischen "Exit" und Bestätigung des Status Quo gehabt. Und alle, die sich vielleicht ein anderes Europa gewünscht hätten als die EU in ihrer derzeitigen Verfassung, keine andere Möglichkeit gehabt, dies auszudrücken als durch ein Votum für Ausstieg.

Bürgerbeteiligung schon vor der Abstimmung

"Insofern wäre es sinnvoll gewesen zu überlegen, was könnte ein Europa der Bürger bedeuten", sagt Nanz. "Man könnte sicherlich sich vorstellen, dass man beispielsweise bei solchen direktdemokratischen Abstimmungen gehaltvolle, dialogorientierte Diskussionen vorschaltet, also Alternativen, Erzählungen entwickeln lässt von Zufallsbürgern: Wie könnte ein Europa in 20, 30 Jahren aussehen, welche Roadmap brauchen wir für ein sozial verträgliches und ökologisches Europa? Das hätte sozusagen auch die alternative Erzählung erst kreieren können und man könnte dann sich vorstellen, dass beispielsweise Bürger hinterher abstimmen können zwischen den Empfehlungen der zufällig ausgewählten Bürger im Verhältnis zu Empfehlungen, die die EU-Institutionen anbieten."

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: 51,9 Prozent zu 48,1 – es geht knapper, aber es geht kaum knapper. Die Entscheidung im Vereinigten Königreich, die uns ungefähr in diesen Minuten genau vor einer Woche erreicht hat, die Entscheidung der Briten: Wir verlassen die Europäische Union. Seither gibt es heftige Debatten über allerlei Fragen, praktische Fragen der Umsetzung, aber eine ganz zentrale auch, die Grundidee unserer Demokratie betreffend: War es schon von vornherein eine dumme Idee, eine Frage von solcher Tragweite mit einem simplen Ja oder Nein der Bevölkerung zu stellen? Bringt das wirklich mehr Bürgerbeteiligung oder am Ende nur Schaden? Fragen an die wissenschaftliche Direktorin an dem Institute for Advanced Sustainability Studies in Potsdam und Koautorin des gerade erschienenen Buches "Die Konsultative. Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung", Patrizia Nanz, guten Morgen!
Patrizia Nanz: Guten Morgen, Herr Frenzel!
Frenzel: Frau Nanz, wenn David Cameron Sie gefragt hätte, ob ein Referendum zur EU eine gute Idee ist, was hätten Sie gesagt?
Nanz: Dass es keine gute Idee ist, über komplexe Zukunftsagenden mit einem Ja/Nein entscheiden zu lassen.
Frenzel: Aber Großbritannien hat sich ja all die Jahrzehnte seiner Mitgliedschaft schwergetan mit dem Verhältnis zur EU. War es nicht wirklich an der Zeit, einmal diese Frage grundsätzlich zu klären mit der höchsten Autorität, die es gibt, dem Wort des Volkes?
Nanz: Doch, das ist absolut richtig. Ich denke nur, dass die Frage ist eben, inwiefern man mit diesen Fragen umgeht. Und es ist schon so, dass eben ein Exit, sozusagen ein Nein letztlich einfach keine Alternativen darstellt, während das Bleiben hätte auch eine alternative Erzählung dann beinhalten können, nämlich: Welches Europa wollen wir eigentlich? Stattdessen war das Austreten die einzige Alternative zum Bestehenden für die Wähler und das Bleiben eigentlich keine Alternative.

Wenig gehaltvoller Willensbildungsprozess

Frenzel: Aber man könnte ja sagen, dass das das Problem derjenigen war, die bleiben wollten, also die Remain-Seite, dass sie einfach eine bessere Erzählung, eine bessere Begründung dafür hätten haben müssen, warum die Leute mit Ja stimmen sollen.
Nanz: Ja, in der Tat, das hätte natürlich dann auch die Debatte etwas, wie soll ich sagen, gehaltvoller gemacht und man hätte auch wirklich darüber eine Entwicklung diskutieren können, was ein alternatives Europa eigentlich bedeuten könnte – was heißt ein soziales Europa, was heißt ein nachhaltiges Europa –, und nicht einfach den Status quo bestätigen, was genau passiert ist.
Frenzel: Das heißt also, den schnellen Schluss – immer dann, wenn Bürger befragt werden, erleben wir mehr Demokratie, mehr Beteiligung –, der ist nicht richtig?
Nanz: Es ist mehr in der Hinsicht, dass natürlich ein Wahlvolk abstimmen kann, und man kann auch sagen, dass es im Grunde genommen genauer repräsentiert den Willen der einzelnen Personen. Die Frage ist, wie dieser Wille zustande kommt, ob die Willensbildung qualitativ hochwertig war. Und die Krux einer direkten Demokratie ist ja oft, dass sie bei Kampagnen ausgenutzt wird und eben oft verkürzt die Dinge darstellt und eben wenig gehaltvolle Willensbildung stattfindet. Das sieht man auch in der Schweiz zum Teil, sieht man aber vor allem in Kalifornien, wo eben von Datenlobbygruppen Fernsehspots gekauft werden im Vorfeld von solchen Abstimmungen. Das ist sozusagen der Nachteil von diesen direktdemokratischen Abstimmungen.

Roadmap für ein sozialverträgliches und ökologisches Europa

Frenzel: Nun könnte man sagen, also das, was Sie erwähnen, der Lobbydruck, der lastet ja auch auf der repräsentativen Demokratie. Gerade wenn wir uns die europäische Ebene angucken, das Europäische Parlament: Ich glaube, es gibt kein Parlament, wo mehr Lobbyisten ein und aus gehen, bis hin zur Gesetzgebung, die sie ja fast schon vorschreiben für Parlament und Kommission.
Nanz: Das ist richtig und insofern wäre es sinnvoll gewesen zu überlegen, was könnte ein Europa der Bürger bedeuten. Ein Europa bedeutet aber nicht unbedingt der direkten Abstimmungen. Es gibt andere Möglichkeiten, Bürger zu beteiligen. Man könnte sicherlich sich vorstellen, dass man beispielsweise bei solchen direktdemokratischen Abstimmungen gehaltvolle, dialogorientierte Diskussionen vorschaltet, also Alternativen, Erzählungen entwickeln lässt von Zufallsbürgern: Wie könnte ein Europa in 20, 30 Jahren aussehen, welche Roadmap brauchen wir für ein sozial verträgliches und ökologisches Europa? Das hätte sozusagen auch die alternative Erzählung erst kreieren können und man könnte dann sich vorstellen, dass beispielsweise Bürger hinterher abstimmen können zwischen den Empfehlungen der zufällig ausgewählten Bürger im Verhältnis zu Empfehlungen, die die EU-Institutionen anbieten.
Frenzel: Also, zufällig ausgewählte Bürger, verstehe ich Sie da richtig: Das heißt, man würde im Prinzip so eine Art Lottosystem machen und dann Gremien bilden, wo Bürgerinnen und Bürger Dinge diskutieren, vordiskutieren?
Nanz: Ja, das ist das, was Herr Leggewie und ich vorgeschlagen haben, die Institution eines Zukunftsrats, wo man eben den Querschnitt der Bevölkerung abbildet durch Zufallsbürger und die über längere Zeit an Zukunftsthemen heranführt und dann so eine Roadmap entwickeln lassen, wie eben Europa sozialpolitisch, wirtschaftspolitisch und sicherheitspolitisch aussehen könnte oder sollte in 20, 30 Jahren. Das nennen wir Zukunftsrat, hat aber Vorläufer.

Die Resultate der Bürgerkonferenzen müssen beachtet werden

Also, auch die EU hat nach dem Verfassungsvertrag und den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden 2005 mehrfach solche Bürgerkonferenzen durchgeführt, auch relativ erfolgreich. Nur waren die Empfehlungen, die da herausgekommen sind, in keiner Weise angeknüpft an den Entscheidungen, was sehr frustrierend war für die Bürger. Das heißt, es gibt Vorläufer, da könnte man anknüpfen, um Europa wieder zu den Bürgern zu führen, allerdings nur dann, wenn die Empfehlungen der Bürger in irgendeiner Form wirksam werden könnten oder wenn beispielsweise dann Referenden daraufhin abstimmen könnten, entweder die Empfehlung der Bürger zu befürworten oder die von Institutionen der EU.
Frenzel: Frau Nanz, das klingt ganz verlockend, aber es klingt auch irgendwie fast schon wieder so komplex, dass ich mir vorstellen könnte: Die Bürger, die vor dem politischen System stehen und sagen, ich habe das Gefühl, ich kann gar nicht mehr richtig mitbestimmen, ich habe keinen Einfluss, meinen Sie denn, dass Sie die damit wirklich einfangen könnten?
Nanz: Es ist ja bereits gemacht worden. Also, die Kombination zwischen dialogorientierten und direktorientierten Abstimmungen ist gemacht worden beispielsweise in Island, als es um den Verfassungsvertrag ging, aber auch in British Columbia, wo es um eine Reform ging, auch eine Verfassungsreform auf Landesebene, wo auch komplexe Fragen im Raum standen und wo das erfolgreich gekoppelt wurde miteinander. Aus unterschiedlichen Gründen hat es dann nicht funktioniert, weil sozusagen die Quoren nicht erreicht wurden.
Ich will damit sagen, es gibt Vorläufer von solchen demokratischen Innovationen und es ist möglich – davon bin ich überzeugt –, Bürger ganz konkret diskutieren zu lassen über einen längeren Zeitraum, unter Umständen auch mithilfe von Experten, aber es eben nicht nur den Experten zu überlassen, in welchem Europa wir in 20 bis 30 Jahren leben wollen und was es konkret heißt. Ich denke, dass es durchaus möglich ist.

Expertenwissen ist nur eine mögliche Wissensform

Frenzel: Würden Sie sagen, dass Politik heute insgesamt zu komplex, zu verwoben ist für klassische Ja-Nein-Fragen?
Nanz: Ich denke, ja, es hat einen Komplexitätsgrad, wo wir viele Formen des Wissens brauchen. Die Wissenschaft ist nur eine Form des Wissens, das Expertenwissen ist auch nur eine Form des Wissens. Wir brauchen auch das lokale Wissen der Bürger, wir brauchen das soziale Wissen und diese ganzen Wissenselemente müssen zusammengeführt werden, damit wir komplexe Entscheidungen gut treffen können.
Frenzel: Wie gehen wir denn um mit den großen Vereinfachern, die es ja überall gibt in Europa? Was setzen wir denen entgegen? Letztendlich nur komplexe Antworten?
Nanz: Nein, wir müssen Erzählungen genauso generieren können, müssen Gegenerzählungen generieren können. Und dafür brauchen wir auf der einen Seite natürlich Fakten und Wissen, aber wir müssen das auf einer Art rüberbringen, was eben nicht nur den Komplexitätsgrad noch weiter erhöht, sondern auch nachvollziehbar ist. Wir dürfen auch nicht den Fehler machen, nur mit Versachlichung gegen die Vereinfacher zu gehen, sondern wir müssen uns auch erlauben, mit Leidenschaft und Gefühl und Emotionen auch Gegenerzählungen zu entwerfen. Die Erzählung eines anderen Europas.

"Wir brauchen Metaphern für Europa"

Frenzel: Das heißt, selbst einfach auch ein bisschen vereinfachen?
Nanz: Ich würde nicht sagen vereinfachen, aber ich glaube, wir kommen nicht umhin, aufgrund von wissensbasierten Erkenntnissen den Versuch zu machen, Erzählungen zu entwickeln oder auch Metaphern zu entwickeln. Wenn Sie sich vorstellen, dass wir Klimapolitik gar nicht mehr ohne das Zwei-Grad-Ziel machen könnten, dann ist das Zwei-Grad-Ziel eine Form der Narrative oder der Metapher, die uns geholfen hat, politisch aktiv zu werden und überhaupt etwas zu tun. Und solche Metaphern brauchen wir auch für Europa.
Frenzel: Patrizia Nanz, wissenschaftliche Direktorin am Institute for Advanced Sustainability Studies in Potsdam. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Nanz: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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