Mythos der Germanen hinterfragt

02.03.2012
Die "Germania" ist eine berühmt-berüchtigte Schrift der Antike. Sie schuf den Mythos der unbeugsamen und dennoch sittsamen Germanen. Altphilologe Christopher B. Krebs erzählt in "Ein gefährliches Buch", wie das Werk für unterschiedliche Zwecke instrumentalisiert wurde.
Nur etwa dreißig Druckseiten umfasst das schmale Werk, das der italienische Historiker Arnaldo Momigliano als eines der "gefährlichsten Bücher der Welt" bezeichnete. Dreißig Seiten, wahrscheinlich im Jahre 98 . Chr. geschrieben vom römischen Historiker Publius Cornelius Tacitus. Dreißig Seiten über die Sitten und Bräuche der Völker östlich des Limes durch Mitteleuropa, die der römische Historiker zusammenfassend "Germanen" nannte.

Der Altphilologe Christopher B. Krebs von der Harvard University hat sich die Rezeption von Tacitus' "Germania" genau angesehen und beweist mit seinem Buch zweierlei: dass auch Altphilologen anschaulich schreiben können und ihr Fach überaus aktuell sein kann. Ihm ist eine überzeugende Studie zur Europäischen Geistesgeschichte gelungen.

Folgt man Krebs' Auffassung - und seine Beweisführung ist schlüssig, seine Belesenheit stupend - schrieb Tacitus sein Werk in erster Linie, um der römischen Gesellschaft ihre Verfehlungen - Prunk, Luxus, Verweichlichung und Dekadenz - vorzuhalten. Als Gegenbild schuf er den Germanen: blond, groß, blauäugig, sittlich, kämpferisch. Spannend beschreibt Krebs wie die "Germania" die Jahrhunderte überlebte. Im 15. Jahrhundert fand ein Abgesandter des Papstes die einzige Abschrift in der Abtei Hersfeld, von wo sie nach Italien kam.

Dort geriet das Werk in die Fänge der Politik: Die Osmanen hatten 1453 Konstantinopel erobert, und auf dem Reichstag 1471 versuchten die Botschafter des Papstes die Deutschen zum Kreuzzug zu überreden. Da passte die "Germania" prächtig - lobte sie doch die kriegerische Tapferkeit und moralische Standfestigkeit der Germanen.

Die Germanen als Urväter der Deutschen - damit war die nationale Note vorgegeben. Krebs verfolgt mit zahlreichen Beispielen die weitere Rezeption durch die Jahrhunderte und zeigt überzeugend mit einer Fülle von Material wie Ideen ihre eigene Wirklichkeit, dann eine politische Relevanz entwickeln - und schließlich kaum mehr infrage gestellt werden: Vom Humanismus über den Barock bis ins 19. Jahrhundert nahm man Tacitus' Aussagen als Wahrheit und berief sich auf die alten Germanen - auf ein Volk, "unvermischt" und, wie Ernst Moritz Arndt schrieb, nicht durch fremde Völker "verbastardet".

Von da war es nur ein kleiner Schritt zum Germanenkult und Rassenwahn der Nationalsozialisten. Auf dem Nürnberger Parteitag 1936 gab es einen mit Tacitus-Zitaten geschmückten "Germanenraum", der Text wurde massenhaft verbreitet, und Heinrich Himmler versuchte noch im Herbst 1943 die Tacitus-Handschrift von seiner SS aus Italien "heim ins Reich" zu holen.

Krebs spart die alternativen Lesarten der "Germania" nicht aus. Natürlich fragten sich immer wieder Autoren, inwieweit die Deutschen ihrer Zeit überhaupt noch etwas mit den hier lebenden Menschen des 1. Jahrhunderts zu tun hatten - schließlich war nicht nur die Völkerwanderung über Mitteleuropa hinweg gezogen - und ob Tacitus' Text überhaupt als historische Quelle tauge. Doch die andere Deutung war verführerischer - erst die begeisterten Leser machten Tacitus' Werk zum gefährlichen Buch.

Besprochen von Günther Wessel

Christopher B. Krebs: Ein gefährliches Buch. Die "Germania" des Tacitus und die Erfindung der Deutschen
Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer
Deutsche Verlags Anstalt, München 2012
352 Seiten, 24,99 Euro
Mehr zum Thema