Mundraumroman

Rezensiert von Helmut Böttiger · 10.04.2006
Der Roman spielt in der Mundhöhle eines gewissen Anton Windl. Der Zahnarzt entdeckt hier Überreste einer prähistorischen Anlage. Der Erzähler im Behandlungsstuhl ist Musiker und zieht alle Register heutiger Science-Fiction-, Comic-, Fantasy- und Popsprachen. Das Debüt "Die Spange" ist ein Improvisations- und Virtuosenstück des Schweizer Autors Michel Mettler.
Man muss sich das ungefähr so vorstellen: Da steht eine Jazzgruppe auf der Bühne, zum Teil mit recht ausgefallenen Instrumenten. Die Musiker fühlen sich in mehreren Richtungen zu Hause und sind auch schon durch den Free-Jazz hindurchgegangen, legen aber zunehmend Wert auf solistische Extravaganzen. Einen langsamen Aufbau bis zum Höhepunkt, mit mitsummbaren Melodiebögen, kennt diese Musik nicht. Es geht viel eher um ein ganz bestimmtes Energielevel, mit einer mal höheren, mal niedrigeren Informationsdichte. Genauso liest sich dieser Roman.

Wer hier einen Helden erwartet, mit dem er sich identifizieren kann und durch vielerlei Fährnisse, Liebeshändel und Abenteuer zu einem mehr oder weniger offenen Ende gelangt, der ist von vonherein fehl am Platz. Es handelt sich dabei um eine Art Gebirgsklamm-Literatur, die wohl nicht ganz zufällig gern in der Schweiz entsteht: derlei abrupte Wechsel zwischen Höhen und Tiefen, derlei Balanceakte über schmale Felsgrate findet man woanders eher selten.

Der gesamte Roman spielt in der Mundhöhle eines gewissen Anton Windl. Der Zahnarzt entdeckt hier Überreste einer prähistorischen Anlage, und wir sind sofort mittendrin in einem Bezugsrahmen, der alle Konventionen des Erzählens hinter sich lässt. Was sich als "Handlung" geriert, entzieht sich einer realistischen Nachvollziehbarkeit, man hat nur die Chance, sich den verschiedenen Wort- und Vorstellungsströmen zu überlassen und sich von ihnen getragen zu fühlen.

Medizinische, archäologische, linguistische und historische Bedeutungsfelder werden abgeschritten – oder vielmehr durchrast. Der Autor befleißigt sich über mehrere Seiten eines gepflegten historischen Wissenschaftsjargons, stellt lexikalisches Wissen aus und lässt seltene Fundstücke funkeln – dann aber bewegen wir uns im Umfeld einer Band, die sich "Rusty Fingers" nennt und sich absolut zeitgenössischer Musik und zeitgenössischen Drogen verschrieben hat.

Wie in einem Jazzkonzert steuert diese Prosa auf den einen, unwiederholbaren Moment zu; es gibt keine Entwicklung. Als der Ich-Erzähler sich während einer seiner Erzählschübe in der Bar einer "Weißen Villa" wiederfindet, sagt er über den Barmann: "Ich wusste, alles Dialektische ödete ihn an" – das könnte einer der Merksätze dieses Romans sein. Das Bedürfnis nach Zusammenhang, nach Sinnstiftung gar gibt es nur in dem jeweiligen Moment.

Über die "weiße Villa" wird gegen Ende des Romans noch einmal improvisiert: da geht sie auf einen Meteoriteneinschlag im Hirn des Erzählers zurück. Ein Verweisungssystem der Bilder und Geschichten gibt es in diesem Buch also durchaus, nur folgt es einer anderen Logik als der gewohnten.

Dass der Held keine Geschichte und keine Entwicklung hat, aber dennoch in gewisser Weise einen rasanten Bildungsroman durchlebt, einen Erfahrungsschub, der ihm plötzlich Bruchstücke seiner Biografie deutlich macht: Das ist eine der Pointen in Michel Mettlers Sturz-Prosa. Der Erzähler im Behandlungsstuhl ist Musiker, er lebt in der unmittelbaren Gegenwart, er zieht alle Register heutiger Science-Fiction-, Comic-, Fantasy- und Popsprachen. "Der Tonproduktion haftet nichts Autobiografisches an": wieder so ein Merksatz.

"Die Spange" ist ein Improvisations- und Virtuosenstück, das durchaus in der Lage ist, in Erinnerung bleibende Momente hervorzubringen. Für verzweifelnde Akademiker gibt es sogar die Chance, einen "Metadiskurs" zu finden – der behandelnde Arzt Dr. Berg erfindet nämlich einen sogenannten "Narrator", um der Biografie des Erzählers auf die Spur zu kommen, und das gibt dem Text Anlass, über allerlei "Erzählflüsse" zu spekulieren und verschiedene "Erzähl-Fragen" zu stellen.

Natürlich ist in diesem Roman aber auch immer die Gefahr spürbar, sich in den virtuosen Effekten zu verlieren, da verselbständigen sich ab und zu die Ideen und verfransen sich die Soli. Wer das "pralle Leben" will, so wie er es sich vorstellt, einen erwartbaren Spannungsbogen oder die ewig jaulenden Gitarren überkommener Rockmusik – der wird hier endgültig eines Besseren belehrt. Wer aber gern Sätze liest wie "Sie trug den hochgeschlossenen Einteiler der geborenen Betäuberin", der fühlt sich hier recht wohl.


Michel Mettler: Die Spange
Roman. Suhrkamp Verlag
Frankfurt am Main 2006.
351 Seiten