Monster der Meere

Von Ingrid Kölle · 10.05.2009
Unzählige Mythen und Legenden ranken sich um unbekannte Monster aus der Tiefe, Seeungeheuer, Kraken, Kalmare. Dramatische Berichte von Fischern erzählen von langen Fangarmen, die sich um ihre Boote klammerten und versuchten, es in die Tiefe zu reißen. Seemannsgarn oder wahre Geschichten? In Neuseelands Hauptstadt Wellington wurde kürzlich ein mögliches Meeresmonster, ein Koloss-Kalmar, konserviert und im Museum ausgestellt.
Chris Paulin ist am Nationalmuseum Te Papa für den Koloss-Kalmar zuständig. Fischer hatten das Tier im Februar 2007 in der Antarktis aus dem Wasser gezogen.

"Das ist der Koloss-Kalmar. Er ist 495 Kilogramm schwer und damit das größte wirbellose Tier auf der ganzen Welt. Am Kopfende sieht man das große Auge. Mit einem Durchmesser von 27 Zentimetern ist es das größte Auge im Tierreich. Am Ende des Behälters sind die Arme mit den großen, dreigliedrigen Haken und an den Tentakeln die Haken, die sich um 360 Grad drehen können, wenn sie einen Fisch festhalten."

Der Koloss war in eine Fangleine für Seehechte geraten. Tief gefroren wurde er ein gutes Jahr lang gelagert. Ein internationales Wissenschaftsteam taute den Tintenfisch vorsichtig auf und konservierte ihn. Es ist der größte, intakte Koloss-Kalmar, der jemals gefunden wurde. Während die weitaus bekannteren Riesenkalmare weltweit verbreitet sind, gibt es die noch mächtigeren Koloss-Kalmare nur in der Antarktis. Entdeckt wurden Teile der Spezies zum ersten Mal 1925 – im Magen von Pottwalen. Der neuseeländische Tintenfisch-Experte Steve O'Shea:

"Der Koloss-Kalmar ist wahrscheinlich in den Gewässern der Antarktis weit verbreitet. Das schließen wir aus der Anzahl der Schnäbel, die wir in den Mägen von gestrandeten Pottwalen finden. Bis zu 15 Schnäbel sind eine ganz schöne Menge an Tintenfisch, die ein Wal innerhalb einer Woche verspeist hat. Aufgrund der Größe der Schnäbel gehe ich davon aus, dass der Koloss-Kalmar bis zu 1000 Kilogramm schwer und wahrscheinlich 15 bis 20 Meter lang werden kann. Es ist also ein riesiges Tier."

Koloss-Kalmare haben acht relativ kurze Arme und zwei Tentakel. Sie gehören damit zur Familie der zehnarmigen Tintenfische. Ihre Saugnäpfe sind umringt mit kalkhaltigen Zähnen. An Armen und Tentakeln haben sie hakenförmige Krallen. Der Schnabel ist sehr scharf und robust. Dies ließ Steve O'Shea zunächst glauben, dass es sich tatsächlich um eines der gefürchteten Monster aus der Tiefsee handeln könnte, die angeblich Fischerboote umklammern und mit sich in die Tiefe reißen. Jetzt hat er seine Meinung jedoch revidieren müssen. Denn anstatt länger zu wachsen, gehen die Tiere in die Breite und werden schwerer und runder.

"Früher hatten wir das Tier so dargestellt, als würde es im Wasser hin und her sausen und aggressiv Fische angreifen. Aber ein Tier mit einem ballonförmigen Körper kann sich im Wasser einfach nicht so schnell fortbewegen. Seine äußere Hülle ist völlig gallertartig. Wenn man es mit dem Finger durchbohren wollte, würde es sich wie Butter anfühlen. Das ist nicht die Konsistenz, die man von einem wilden Biest erwartet. Es ist unvorstellbar, dass dieses Tier mehr macht, als über den Meeresgrund wie ein dicker Pfropf zu treiben."

Im Überlebenskampf kann der Koloss-Kalmar jungen Pottwalen vermutlich auch tödliche Wunden zufügen. Aber der papageienartige Schnabel dient vor allem dem Zerkleinern der gefangenen Beute: Antarctic toothfish, schwarze Seehechte, sind seine bevorzugte Nahrung. Mit seinen riesigen Augen und Pupillen kann der Koloss-Kalmar noch geringste Mengen an Licht in den Tiefen des Ozeans einfangen.

"Er hat zwei winzige Scheinwerfer unter den Augen, die möglicherweise den Meeresboden ausleuchten. Wenn der Kalmar dann plötzlich unter sich einen zwei Meter langen Fisch sieht, schießen die Tentakel hervor und packen ihn. Der Fisch wird kämpfen, um sich schlagen. Er will nicht gefressen werden. Aber die mächtigen Arme mit den Krallen halten ihn fest und der Schnabel erledigt ihn."

Für die Wissenschaft war der Fang ein Glücksfall. "Wir haben sehr viel gelernt", sagt O'Shea. Trotzdem bleiben noch viele Fragen offen. Unter den acht bisher entdeckten Koloss-Kalmaren war kein einziges Männchen. Auch die inneren Organe sind kaum erforscht. Die Aufbereitung des bisher größten Exemplars stellte die Beteiligten vor enorme Probleme. Sie sind daher wenig daran interessiert, in nächster Zeit an einem evtl. noch größeren Tier arbeiten zu müssen.

"Wenn das Endziel der Erhalt der Tiere ist, dann müssen wir sie von Anfang an schützen. Aber wenn sie tot auf der Meeresoberfläche aufgefunden werden, dann sollte man sie uns bringen, denn sie können der Wissenschaft nützlich sein. Das Schlimmste, was passieren könnte, wäre der kommerzielle Fang. Tiere wie die Pottwale sind von ihnen abhängig. Wenn wir die Tintenfische fangen, hätte das kaskadenartige Auswirkungen auf die Nahrungskette und wir würden wahrscheinlich ein weiteres charismatisches Tier der Tiefe verlieren."