Möglicherweise ist es Kunst

Von Annette Schneider · 07.11.2012
Anselm Reyle gilt als Shootingstar in der Kunstszene: Er klebt Alltagsmüll auf eine Leinwand und überzieht alles mit blau-metallisch glänzender Lackfarbe. Was beim Schweizer Künstler Daniel Spoerri Kritik an der Wegwerfgesellschaft war, wird bei Reyle zum schicken Designobjekt.
Von der hohen Decke hängen lange Bahnen aus Silberpapier. Sie teilen die Halle in einen hellen vorderen, und einen dämmrigen hinteren Bereich. Vorne sieht man sehr schicke, sehr große, sehr grellfarbige Plexiglasboxen an den Wänden - angefüllt mit dekorativ gefalteter silberner Deko-Folie.

Anselm Reyle: "Diese Materialien verwende ich ganz bewusst. Weil sie einerseits mich faszinieren, und diese Faszination kann ich damit natürlich auch zeigen. Aber das Ganze ist natürlich auch äußerst fragwürdig und angreifbar. Weil der Hauptbestandteil einfach diese Negativ-Materialien sind. Und diese Angreifbarkeit ist glaube ich auch Teil meiner Arbeit."

Hinten, im Dämmerlicht, stößt man auf ein riesiges Gebilde aus farbigen Neonröhren, einen grellgelb bemalten, alten Heuwagen, und auf senkrechte Eisenträger, in die blaue Lichtquellen eingelassen wurden. Dirk Luckow, der Leiter der Deichtorhallen, ist begeistert:

"Anselm Reyle stellt aus! Internationaler Shootingstar der deutschen Kunstszene. Und ich freue mich, dass er hier eine, wie ich finde, berauschende Show mit Gesamtkunstcharakter hinlegt. Insgesamt vielleicht sogar ein barockes Welttheater, zugleich aber wirklich eine sehr minimalistische Geste in Szene gerückt. Ein Künstler, der absolut am Puls der Zeit steht."

Ein alter Malereimer mit einem Holzständer, auf dem ein rosa bekleckster Styroporklumpen steckt. Großformatige Malen-nach-Zahlen-Bilder, vorgemacht von Andy Warhol Ende der 60er Jahre. Ein Künstler, der "absolut am Puls der Zeit steht"? Was doch wohl meint, dass er sich kritischen Blicks mit unserer Wirklichkeit beschäftigt?

Dirk Luckow: "Anselm Reyle reibt sich natürlich an der Wirklichkeit. Das eine ist, dass er sich mit den Klischees der Moderne beschäftigt. Und das andere ist, dass er Materialien nimmt, die ganz aktuell sind. Und dieses beides bringt er zusammen. Also: Er setzt sich mit der Hochkultur auseinander, und verbindet dies mit dem, was wir vom Alltag her kennen. Und ich würde ihn schon so als einen sensiblen Doppelagenten zwischen High and Low, Trash und Luxus, Ruinösem und dann wieder dem schönen Schein bezeichnen."

Anselm Reyle klebt auch Alltagsmüll auf Leinwand - Kronkorken, Metallreste, zerbrochene Flaschen - und überzieht alles mit blau-metallisch glänzender Lackfarbe. Der Schweizer Künstler Daniel Spoerri übte einst mit seinen Materialbildern Kritik an der Wegwerfgesellschaft, bei Reyle werden sie zu schicken Designobjekten für’s Wohnzimmer.

Anselm Reyle: "An sich habe ich jetzt mit Design keine Berührungsängste oder so. Und als ich studiert habe, in den 90er Jahren, war es strikt getrennt: Design etwas Niederes, Kunst etwas Hohes. Das ist glücklicherweise nicht mehr so. Ich glaube, dadurch dass es hier hängt und in einer Ausstellungshalle, ist es wahrscheinlich Kunst. Ich mach mir da jetzt gar nicht so viele Gedanken drüber."

Dafür sorgen traditionellerweise auch andere: Sammler, Galeristen, Museumsleute, Kritiker. Sie schätzen abstrakte Objekte, lassen sich die doch zwanglos mit unterschiedlichster Bedeutung füllen - und dann zu Kunst erklären. Gut ist auch, wenn sich Referenzen an andere Künstler entdecken lassen. Das erhöht die Objekte umgehend zu Kunst - was natürlich auch Anselm Reyle weiß:

"Es gibt ja bei mir direkte Referenzen. Zum Beispiel zu Otto Freundlich, auch zu Andy Warhol. Es gibt aber eben auch indirekte Referenzen, zu dem Streifenbild allgemein oder zu Colour-Field allgemein oder zu dem Monochrombild allgemein. Das sind alles Themen, die mich interessieren."

Die neongelben Wände, die durch den Silbervorhang in den hinteren Teil der Halle führen, sind eben nicht nur poppig-neongelbe Wände, sondern verweisen auf die Farbfeldmalerei...

"Natürlich hat das auch mit dem Colour-Fieldmäßigen zu tun, mit dem Rothko-mäßigen eintauchen in den Farbraum und so."

Und die vielen farbigen Plexiglasboxen mit der dekorativ gefalteten Alufolie erinnern Deichtorhallenleiter Dirk Luckow an Gotik und Manierismus. So kann man das Spiel immer weiter treiben. Etwa angesichts der Streifenbilder, mit denen Reyle vor einigen Jahren bekannt wurde. Auf ihnen sieht man: senkrecht verlaufende farbige Streifen. Manchmal besteht einer aus Spiegelfolie. Und schon geht’s los…

Dirk Luckow: "Etwas zu spiegeln heißt ja auch, etwas zu verbergen. Und man wird auf sich zurückgeworfen, einerseits. Und gleichzeitig hat man das Gefühl, man kann in das Bild hineinschauen und hinter die Farben blicken. Und Malerei ist immer ein Spiel mit der Fläche und mit der Tiefe. Und da bewegt sich der Reyle, die ganze Zeit. Aber auf einem hohen Niveau, würde ich sagen. Tiefe heißt bei ihm: Reflexion mit dem, wie die Dinge heute in ihren standardisierten Formen ihre Umwelt prägen. Und damit umzugehen. Und das mit der Tradition der "hohen Kunst" zusammenzubringen."

Das Ergebnis: Taschenentwürfe und Glitzernagellack für Dior. Und ganz viel farbige, glänzende Oberflächen, die - natürlich - ganz viele Verweise an alles Mögliche enthalten, und hinter denen es - natürlich - gedanklich tief in die Tiefe geht.

Bis hin zum hohlen Kern.

Service:
Die Ausstellung "Mystic Silver" mit Werken von Anselm Reyle ist bis zum 27.1.2013 in den Deichtorhallen Hamburg zu sehen.

Links bei dradio.de:
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