Moderner Aberglaube: der Körpermassewert

31.12.2005
Figurbemühte Menschen halten sich gern an mathematische Vorgaben, um sich als normalgewichtig unter all den dicken Deutschen einordnen zu können. Das schafft offenkundig Selbstvertrauen. Eine Hilfskonstruktion dafür ist der genannte Body-Mass-Index, der BMI.
Die Idee, die hinter dem BMI steckt, muss eigentlich jedem mit gesundem Menschenverstand Gesegneten die Haare zu Berge stehen lassen: Man messe Körpergröße und Gewicht, setze die beiden Zahlen zueinander ins Verhältnis und schon weiß man, wie "fett" und damit wie gesund oder krank jemand ist. Diese Zahl entscheidet heute über Wohl und Wehe, über gesellschaftlichen Erfolg, über vermeintlich gesundheitsfördernde Maßnahmen und die Staffelung der Versicherungsbeiträge. Mit der gleichen Logik könnte man aus dem Verhältnis von Schädelumfang zu Stirnhöhe die Qualifikation seines Arztes errechnen. Kann man es da Zeitgenossen verübeln, wenn sie beim Blick in die Zukunft lieber eine Glaskugel nehmen oder sich Tarotkarten legen lassen?

Nicht nur der Gesundheitsfanatiker will wissen, wie hoch der Fettgehalt seines Körpers ist. Ganz ähnliche Fragen muss heute auch jeder Metzger am Schlachthof beantworten können. Schließlich werden die Schweinemäster nach dem Anteil an Magerfleisch ihres Viehs bezahlt. Obwohl die Tiere im Gegensatz zur Bevölkerung genetisch ziemlich einheitlich sind, käme kein Metzger und auch kein Landwirt auf die abstruse Idee, den Fettgehalt aus dem Gewicht einer Sau sowie dem Abstand zwischen Rüssel und Ringelschwänzchen zu ermitteln. Würde ein Mitarbeiter eines Schlachthofs versuchen, mit der "Methode BMI" den Fettanteil des Viehs zu erfassen, er würde sofort gefeuert, da die beiden Werte – selbst formelhaft verbunden – nicht einmal für Schweine taugen.

Wohin die BMI-Klassifizierung beim Menschen führt, zeigen die berühmten Beispiele von Brad Pitt, George Clooney oder gar Arnold Schwarzenegger. Brad Pitt ist demzufolge übergewichtig, George Clooney bereits krankhaft fettsüchtig, und Arni würde – allein anhand seines BMIs – von einer Ernährungsberaterin gewiss als unsportlicher Fettsack entlarvt, der auf Rohkost gesetzt werden muss, damit er Masse verliert.

Generell gehören nach der BMI-Denke nahezu alle Kraftsportler in die Abspeckklinik, um dort bei Wasser und Knäckebrot – angereichert mit Ausdauertraining und Verhaltenstherapie – Gewicht zu verlieren. Die schweren Muskelmänner sind Sonderfälle, könnte man sagen. Stimmt nicht ganz. Erstens gibt es noch jede Menge anderer kräftig gebauter Zeitgenossen. Nicht selten verrichten sie schwere körperliche Arbeit, um dann regelmäßig von "Experten" wie Hausärzten zum Abnehmen aufgefordert zu werden. Was für Schwerarbeiter und Kavenzmänner gilt, trifft übrigens auch für viele Sportsfreunde zu, von Langstreckenläufern, Jockeys und Bodenturnerinnen einmal abgesehen.

Offenbar hat inzwischen sogar die Fachwelt erkannt, dass der BMI keine intellektuelle Glanzleistung war. Die amerikanische Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control (CDC) vermeldet, dass "der BMI allein nicht als diagnostischer Wert" angesehen werden sollte, sondern nur in Verbindung mit anderen gesundheitlichen Risikofaktoren. Der immer wieder gern hergestellte Zusammenhang zwischen Körpermasse und Krankheit bzw. Lebenserwartung ist also unzulässig, wenn nicht "andere gesundheitliche Risikofaktoren" dazukommen. Was die CDC-Experten hier knapp und nüchtern formulieren, heißt im Klartext: Aus dem BMI eines Menschen auf seine Gesundheit zu schließen ist in aller Regel dummes Zeug – egal ob er sich nach der Künast-Philosophie im grünen, gelben oder roten Bereich befindet.

Für gesundheitliche Versprechungen oder Drohungen taugt der BMI nicht. Dazu eignet sich schon eher das Verhältnis von Taillenumfang zu Hüftumfang (englisch waist-to-hip ratio, WHR). Damit sind schon mal alle Menschen mit gynoidem Fettansatz ("Birnentyp") – also die formvollendete Weiblichkeit à la Rubens – aus dem bösen Spiel mit dem "vorzeitigen Fettod" entlassen. Sie können sich jetzt ganz entspannt zurücklehnen. Übrig bleiben nur die "Apfelbäuche". Eine Auffassung, die sich durchaus biologisch sinnvoll begründen lässt, da diese Körperform oftmals eine Folge von negativem Stress, so genanntem Distress ist. Entscheidend ist also nicht der Gesamtfettgehalt des Körpers, sondern die Verteilung des Fetts an ganz bestimmten Körperstellen. Damit sind teure "Fettwaagen" ebenso wertlos wie die bisher üblichen Badezimmerwaagen.

Aber davon werden sich die Heerscharen aufklärerischer Gutmenschen wohl nicht beirren lassen. Schließlich ist der BMI nicht nur einfach zu berechnen, sondern auch eine Wunderwaffe, um große Teile der Bevölkerung in Angst zu versetzen. Selbst auf die Gefahr hin, den sozialen Frieden aufs Spiel zu setzen, indem man Bevölkerungsgruppen über ihren BMI gegeneinander ausspielt und als Kostentreiber des Gesundheitssystems denunziert. Lachende Dritte sind die vor laufender Kamera besorgt dreinblickenden Experten.

Entnommen aus: Udo Pollmer: Esst endlich normal! Wie die Schlankheitsdiktatur die Dünnen dick und die Dicken krank macht. Piper-Verlag, München Zürich 2005. ISBN 3-492-04791-2