Mit Charme, aber ohne Gewissen

Rezensiert von Thomas Kroll · 21.08.2006
Sie sind häufig attraktive und spontane Menschen mit besonders viel Charme, doch ohne Skrupel manipulieren sie gezielt ihre Mitmenschen für ihre eigenen Zwecke. In "Der Soziopath von nebenan" erklärt die Amerikanerin Martha Stout anhand plastischer Beispiele, wie man diese erkennt und was ihr Handeln motiviert. Außerdem gibt sie 13 Regeln für den Umgang mit solchen Menschen.
Es mag sonderbar klingen und ist unserem Denken und Fühlen nach nahezu unvorstellbar: Es gibt Menschen ohne ein Gewissen. Sie empfinden weder Scham noch Schuld, geschweige denn Reue. Das Phänomen und dessen Folgen beschreibt Martha Stout in ihrem Buch "Der Soziopath von nebenan".

Soziopathen sind herzlos, völlig gleichgültig in Bezug auf das Wohlergehen anderer. Gezielt manipulieren sie ihre Mitmenschen für ihre eigenen Zwecke und scheren sich in keiner Weise um die Nachteile der von ihnen Ausgenutzten.

Laut Zusammenschau etlicher Studien ist Soziopathie, besser die dissoziale oder antisoziale Persönlichkeitsstörung bei etwa drei bis sieben Prozent der Männer und bei ein bis zwei Prozent der Frauen auszumachen. Stout schreibt, dass es sich bei erschreckenden vier Prozent unserer Mitmenschen um Soziopathen handelt. Das ist einer oder eine von 25 Personen, sei es in der Nachbarschaft, im Bekanntenkreis, unter Arbeitskollegen oder in der eigenen Familie.

In ihrem nahezu dreihundertseitigen Buch schildert die US-amerikanische Therapeutin mehrmals und ausgiebig, wie Soziopathen agieren und was sie antreibt. Da ist etwa der Nichtsnutz, der seiner Lebensgefährtin herzerweichend vorjammert, wie schwer es sei, einen adäquaten Job zu finden. All das erfolgt aus kühler Berechnung, lässt er sich doch über Jahre von der Ahnungslosen aushalten. Da ist zum Beispiel die Kliniktherapeutin, die um einer Kollegin zu schaden, deren ohnehin labilen Patienten in eine psychische Krise stürzt.

Fatalerweise zeichnen sich die meisten Soziopathen durch besonderen Charme und durch beeindruckende Redegewandtheit auf. Sie sind unfähig, echte Gefühle für Mitmenschen und sich selbst zu empfinden, doch äußerst gelehrig und daher in der Lage, Emotionen bestens zu imitieren.

Im Grunde wollen Soziopathen ihr Spiel mit Menschen treiben. Darin suchen und finden sie ihren Kick. Die Machenschaften, die sie ersinnen, um zu gewinnen, sind überaus vielfältig, "und nur wenige haben etwas mit physischer Gewalt zu tun."

Soziopathen sind oft spontaner, einnehmender oder attraktiver als andere. Das macht es nicht gerade leicht, sie zu erkennen, sollte aber zumindest vorsichtig machen. In Martha Stouts Buch findet man dreizehn Regeln für den Umgang mit Soziopathen im Alltag. "Die erste lautet, dass man es akzeptieren muss, dass einige Menschen buchstäblich kein Gewissen haben." Grundsätzlich empfiehlt sie mit ihren weiteren Regeln, Autorität in Frage zu stellen, Schmeichelei mit Skepsis zu begegnen, vor Rührseligkeit auf der Hut zu sein und vor allem ihr oder sein Spiel nicht mitzuspielen, was oftmals völlige Abgrenzung erfordert.

Die Autorin blickt auf eine mehr als 25-jährige Praxis als Therapeutin zurück und gewinnt ihre Kenntnisse über Soziopathen aus der Perspektive der Opfer. Daher möchte sie aufklären über die Lügen, Taktiken und Tricks der skrupellosen Täter.

Das ohne Vorkenntnisse lesbare Buch verarbeitet einen großen Teil der englischsprachigen Fachliteratur und wendet sich vorwiegend an ein Publikum, das an Themen der Psychologie interessiert ist. Sieht man einmal von zahlreichen Wiederholungen am Anfang ab, weiß Dr. Stout dank plastischer Beispiele zu fesseln und aufgrund der verarbeiteten Fakten gut zu informieren. Ihre Einsicht, dass die antisoziale Persönlichkeitsstörung weitgehend als unheilbar gilt, ist erschütternd und gibt zu denken. Wenn auch nicht immer auf dem letzten Stand ethischer und (moral )theologischer Forschung, ist ihr Buch in weiten Teilen eine Hommage an eine wichtige Instanz der menschlichen Person: das Gewissen.

Martha Stout: Der Soziopath von nebenan.
Die Skrupellosen: ihre Lügen, Taktiken und Tricks.

Übersetzt von Karsten Petersen
Springer Verlag, Wien 2006
293 Seiten, 29,95 Euro