Militärdiktatur Brasilien

"Wir müssen noch einiges aufarbeiten"

Moderation: Jörg Degenhardt · 31.03.2014
1968 wurde Luiz Ramalho während einer Demonstration gegen die Militärregierung angeschossen und floh nach Deutschland. Er erzählt, dass damals sogar Helmut Schmidt das Regime unterstützte - und wie das Land bis heute von der Diktatur gezeichnet ist.
Katrin Heise: 2014 - Brasilien wartet auf die Fußball-Weltmeisterschaft, und nicht nur Brasilien. Aber nicht nur Vorfreude ist zu spüren. Gerade in den vergangenen Tagen haben Polizei- und Militäreinsätze in den Favelas aufgeschreckt. 2014 ist auch das Jahr, in dem der Bericht der Wahrheitskommission erwartet wird, der Wahrheitskommission, die die Vorkommnisse des Putsches und vor allem dann der sich anschließenden 20-jährigen Militärdiktatur aufarbeiten muss.
Wenn man sich mal die Zeitspanne vor Augen führt: Heute vor 50 Jahren putschte sich das Militär in Brasilien an die Macht, und vor zwei Jahren erst wurde mit der Wahrheitskommission die Aufarbeitung tatsächlich ernsthaft begonnen. Dann kann man sich vorstellen, dass dieses Geschehen Auswirkungen bis heute hat in Brasilien. Und das wollen wir uns erläutern lassen. Ich begrüße Luiz Ramalho. Er gehört zur Initiative "Nunca Mais", organisiert ein umfangreiches Gedenk- und Diskussionsprogramm. Er ist Soziologe und floh 1969 vor der Militärdiktatur nach Deutschland. Ich grüße Sie, Herr Ramalho.
Luiz Ramalho: Guten Morgen.
Heise: Wie haben Sie den Putsch vor 50 Jahren erlebt?
Ramalho: Ja, das war eine merkwürdige Ruhesituation. Eigentlich hat keiner erwartet, dass die Militärs putschen würden. Die damalige Regierung war eine reformorientierte, aber eher schwache Regierung, und es gab natürlich viel Bewegung auf der Straße: Landreform, die Studenten wollten eine neue Universität haben und so weiter. Und in diesem Vakuum griffen die Militärs ein und lösten im Prinzip die Parteien auf, vor allem zunächst einmal nur die Parteien und die Gewerkschaften. Das war der erste Schritt.
Heise: Warum konnte sich das Militär dann so breit machen, wenn Sie sagen, es war eigentlich damals eine reformorientierte Stimmung?
Kalter Krieg und Angst der Oligarchen als Auslöser
Ramalho: Es gibt viele Gründe. Einer davon war natürlich der Kalte Krieg. Kuba kurz davor, Ende der 50er-Jahre, und die Amerikaner haben - das wissen wir jetzt aus den Dokumenten, die veröffentlicht werden - schon eine große Angst gehabt, dass mit Brasilien ein größeres Land aus der westlichen Hemisphäre ausfällt. Das ist der eine Grund.
Der zweite Grund war natürlich: Die starken Oligarchien in Brasilien waren besorgt, dass aus dieser ganzen sozialen Bewegung was werden könnte, was sie gar nicht wollten, Agrarreform beispielsweise, Enteignung der Latifundien, die zum Teil 400 Jahre alt waren und aus der Sklaverei stammen. Diese inneren Faktoren und äußeren Faktoren zusammen haben die Militärs genutzt, um einzugreifen.
Heise: Und installierten dann eine über 20 Jahre währende Militärdiktatur, mit, wie wir das auch - und das ist uns viel präsenter - aus Chile und Argentinien kennen, mit Folter, mit Verhaftungen, mit Verschwundenen.
Ramalho: Man sagt, dass Brasilien sozusagen der erste Schritt war. Das gab dann fast wie eine Kette Argentinien, Chile, Uruguay. Paraguay war bereits eine Militärregierung. Aber die ersten vier Jahre haben die Militärs sich beschränkt auf Ausschaltung der Parteien und der Gewerkschaften. Erst danach, '68/'69, sind sie dann übergegangen zu den Repressionsmethoden, Folter, verschwinden lassen und so weiter, alles fast wie ein Blue Print, wie so ein schreckliches Pilotprojekt, wenn man so will, für die anderen Diktaturen. Die brasilianischen Militärs waren dann in Chile und haben weitergegeben…
Heise: Quasi angelernt.
Ramalho: So ist das.
Heise: Sie sind '69 geflohen?
Ramalho: Ja. Ich bin '68 bei einer Demonstration angeschossen worden, war schwer verletzt, und dann dachte ich. Ich verbringe mal eine Zeit im Ausland, war aber dann hier in Deutschland häufig öffentlich aufgetreten, und das ist der brasilianischen Botschaft aufgefallen. Daraufhin: Kein Pass, nur geduldet, weg, ich konnte nicht mehr zurück.
Heise: Das wollte ich nämlich jetzt auch ansprechen. Sie haben in Deutschland sich dann durchaus aber auch nicht unbedingt sicherer fühlen können. Sie haben vorhin ja schon so ein bisschen Kalter Krieg angesprochen und die Angst, die da im Hintergrund überall auch war, wie man von hieraus diese Brasilien-Situation beobachtete. Sie hatten keinen Pass mehr. Sie waren dann ja illegal.
Helmut Schmidt schloss mit Diktator Atomvertrag
Ramalho: Ja, und das ist interessant, weil es gab damals in Deutschland wirklich zwei Lager: Ein Lager, das praktisch sehr stark die brasilianischen Militärs unterstützt hat. Mit so einem großen Land, was ökonomisch wächst, da muss man kooperieren, muss man zusammenarbeiten. Die andere Seite war aber auch eine ausgeprägte Solidaritätsszene. Ich bin von der Kirche stark unterstützt worden, von einzelnen Parteien, übrigens von der SPD sehr stark, aber auch von der CDU. Es gab schon so eine Gegenbewegung, dass man etwas genauer hineinschauen sollte, was da passiert in Brasilien, und das hat mich schon unterstützt, so dass ich hier einigermaßen überleben konnte, dann studieren konnte und eben geblieben bin.
Heise: Aber die offizielle deutsche Politik damals war durchaus eine brasilienfreundliche dem Regime gegenüber?
Ramalho: Ja, das stimmt, und das ist überraschend, wenn man denkt, dass Willy Brandt und Helmut Schmidt an der Macht waren damals. Aber Helmut Schmidt hat dem deutschstämmigen brasilianischen Diktator damals die Hand geschüttelt und einen Riesenvertrag, den deutsch-brasilianischen Atomvertrag abgeschlossen, und insofern war das schon so auf der einen Seite: Menschenrechte waren einfach auf offizieller Ebene kein Thema.
Heise: Heute vor 50 Jahren begann die Militärdiktatur in Brasilien, unser Thema im "Radiofeuilleton" mit Luiz Ramalho. Es ist ja tatsächlich unfassbar, Herr Ramalho, wenn man sich vorstellt, dass in Brasilien zu einem frühen Zeitpunkt, vor 50 Jahren diese Militärdiktatur griff, und jetzt, wo sich Brasilien auf die WM vorbereitet, diese WM-Vorbereitung schon viel länger währt als die Aufarbeitung dessen, was da vor 50 Jahren begonnen hat.
Ramalho: Das Interessante daran ist, dass die Militärs sehr früh, 1979, ein Amnestiegesetz ausgerufen haben und haben sich selbst auch amnestiert. Da sie aber weitere sechs Jahre an der Macht blieben, war es nicht möglich, dieses Gesetz in irgendeiner Weise in Frage zu stellen. Danach? Sagen wir mal so: Dokumentiert ist das alles. In den 80er-Jahren hat die Katholische und Evangelische Kirche ein Projekt gemacht und man wusste dann, wer waren die Folterer, welche Foltermethoden, wer wurde gefoltert, wer ist verschwunden. Aber das kam in der Öffentlichkeit nicht durch, denn bis heute ist das so, dass die zivilen Politiker vorsichtig sind, wie sie mit den Militärs umgehen - viel weniger als damals…
Präsidentin Rouseff war selbst Opfer von Folter
Heise: Warum ist das so?
Ramalho: Damals war das ganz klar eine Art Aushandlungsprozess. Hier in Berlin waren 40, 50 Leute, zum Teil sehr bekannte Leute, die haben hier im Exil gelebt. Die kehrten zurück und waren sofort integriert, auch in der Politik. Okay, das machen wir, sagten die Militärs, aber ihr redet nicht über unsere Taten. Das ist eine Amnestie für alle. Das hat sich geändert im Augenblick, wo die Präsidentin, die jetzige Präsidentin Rousseff war selbst Opfer von Folter und war einige Jahre im Gefängnis, und sie hat gesagt, jetzt ist der Punkt gekommen, jetzt wollen wir doch ganz genau wissen, was da passiert ist.
Heise: Und wie geht Brasilien, wie geht die Öffentlichkeit jetzt damit um, jetzt, wo man quasi diesen Frieden, der da drübergegossen worden ist, aufkündigt?
Ramalho: Ja, es gibt Reaktionen der Militärs. Ich bin auch mal sehr gespannt, was heute kommt. Die Militärs haben praktisch jedes Jahr zum Anlass des Putsches, der übrigens nicht am 31. 3. war, sondern am 1. April, aber sie wollten nicht am Lügentag in die Geschichte eingehen. Ja, es gibt Reaktionen der Militärs, aber ich denke, die brasilianische Gesellschaft ist demokratisch gefestigt genug, um damit umzugehen. Die Präsidentin hat gerade eingegriffen bei einem Militär, der sich dazu geäußert hat. Aber es ist für mich interessant, der jetzt das so ein bisschen von außen begleitet, dass viele Themen, die tabu waren, jetzt hochkommen und thematisiert werden.
Heise: Ich habe vorhin ein bisschen die Verbindung gezogen zwischen dem, was jetzt in den Favelas auch schon länger, aber jetzt am Wochenende gerade wieder aktuell passiert, der Eingriff des Militärs, der Polizei - ein sehr harter Durchgriff zur Kriminalitätsbekämpfung, heißt es -, und die Verbindung zu damals, Polizei, Militär. Sehen Sie da auch eine Verbindung aus dieser Nichtaufarbeitung, dass Militärs und Polizei in einer Art und Weise in Brasilien agieren, wie das nicht geschehen könnte, wenn man Aufarbeitung geleistet hätte?
"Heute geht Polizei hart gegen arme Menschen vor"
Ramalho: Menschenrechtsverletzungen gerade durch Polizei waren leider schon immer in der Tradition in der brasilianischen Geschichte. Nur dass sie direkt und so systematisch auf politische Opponenten angewandt wurden, das war neu. Aber wir haben nach wie vor eine nicht durchdemokratisierte Polizei, die gerade mit armen Menschen sehr gewalttätig umgeht, so dass wir heute sagen können, eine systematische Repression als Staatspolitik und Regierungspolitik ist nicht da, aber es ist sehr viel im Alltag aufzuarbeiten. Brasilien ist eine sehr ungerechte Gesellschaft.
Heise: Deswegen ja auch die ganzen Demonstrationen im Vorfeld der WM?
Ramalho: Richtig. Bei den Demonstrationen ist vor allem interessant, dass die Leute, die sehr viel profitiert haben von den letzten Jahren, jetzt sagen, zur Überraschung auch der Regierung, weil die sagen, wir haben doch so viel gemacht, es reicht nicht, wir wollen bessere Bildung. Bildung gut, bessere Bildung. Gesundheit gut, bessere Gesundheit. Deswegen kumuliert sich das alles mit den Demonstrationen, die wir gesehen haben, und da geht die Polizei manchmal wirklich völlig rabiat damit um, und insofern haben wir es heute auch mit Menschenrechtsverletzungen zu tun und müssen noch einiges aufarbeiten.
Heise: Haben Sie die Hoffnung, dass mit Ihren vielen, vielen Veranstaltungen, die sowohl hier in Deutschland stattfinden, die aber auch in Brasilien ja in diesem Jahr stattfinden, von der Initiative "Nunca Mais", dazu beigetragen wird, gerade jetzt auch diese demokratischen Prozesse voranzutreiben?
Ramalho: Das hoffen wir sehr. In Brasilien wird tatsächlich gerade in den letzten zwei Monaten sehr viel darüber geredet und wir haben hier in Deutschland viele interessierte junge Leute, die solidar mit Brasilien sein wollen, und dann kommen diese Themen auf. Ja, es ist auch heute noch solidarische Arbeit mit Brasilien notwendig, gerade in diesem Punkt Menschenrechtsverletzung, Behandlung von Armen, von Schwarzen, von Indigenen. Da haben wir noch ein Defizit.
Heise: Vieles wird angesprochen in den vielen Veranstaltungen von "Nunca Mais". Ich sprach mit Luiz Ramalho, der vor der Militärdiktatur nach Deutschland floh und in der Initiative sich engagiert. Die zahlreichen Veranstaltungen, die finden Sie übrigens im Internet, wenn Sie unter dem Stichwort "Brasilientage" suchen. Herr Ramalho, ich danke Ihnen ganz herzlich.
Ramalho: Ich danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk/Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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