Mexiko-Stadt

Ein Museum für die Verschwundenen

Der Eingang zum 'Museum des unbeugsamen Gedächtnisses'
"Niemand mehr, niemals" – Der Eingang zum Museum des unbeugsamen Gedächtnisses © Anne-Katrin Mellmann
Von Anne-Katrin Mellmann · 30.08.2016
27.000 Menschen gelten in Mexiko offiziell als verschwunden. Oft sind es Dissidenten, und der Staat ist beteiligt. Ein Museum in Mexiko-Stadt macht die Jahrzehnte alte Geschichte der grausamen Praxis des "Verschwindenlassens" öffentlich.
Niemand mehr, niemals – steht in großen weißen Buchstaben über dem schwarz getünchten Museumseingang. In der Fußgängerzone im Zentrum von Mexiko-Stadt mit seinen bunten historischen Gebäuden wirkt es wie ein Ort der Trauer. In einem Baum davor hängen schwarz-weiß-Fotografien der seit zwei Jahren verschwundenen Studenten von Ayotzinapa. Dieser über die Grenzen Mexikos hinaus bekannte Fall ist nicht der erste, an dem der Staat beteiligt war. Polizisten hätten die 43 Studenten kriminellen Banden übergeben, so die offizielle Version. Jorge Gálvez leitet das Museum des unbeugsamen Gedächtnisses. Er gehört zu einem Komitee von Angehörigen Verschwundener. Sein Schwager wurde in den 1970er Jahren von Soldaten verschleppt.

Geschichte des Verschwindenlassens begann vor langer Zeit

Jorge Gálvez: "Als wir vor vier Jahren das Museum einrichteten, wussten wir, dass weiterhin Menschen verschwinden würden. Weil das die Art ist, mit der wir in Mexiko regiert werden: Dissidenten verschwinden. Erst der Fall der 43 Studenten macht nun leider auch die anderen Verschwundenen sichtbar. Ihr Fall hat Mexiko demaskiert und der Welt deutlich gezeigt, dass wir unterdrückt werden. Die Geschichte des Verschwindenlassens begann nicht erst mit den 43, sondern schon vor langer Zeit. Ein Satz, den ihre Angehörigen übernahmen, heißt: Lebend haben sie sie uns genommen, lebend wollen wir sie zurück. Wir haben den Satz schon vor 38 Jahren geprägt."
Jorge Gálvez, Museumsdirektor
Jorge Gálvez, Museumsdirektor© Anne-Katrin Mellmann
Das Museum konzentriert sich auf die Anfänge, zeigt in Bild und Ton das Massaker von Tlatelolco 1968, bei dem die Armee in Mexiko-Stadt friedliche Demonstranten erschoss. Im darauffolgenden sogenannten Schmutzigen Krieg verschwanden viele Dissidenten für immer spurlos – unter Beteiligung des Staates. Die Praxis ähnelt der heutigen. Der italienische Journalist und Autor Federico Mastrogiovanni hat darüber in Mexiko ein viel beachtetes Buch veröffentlicht.
Federico Mastrogiovanni: "Verschwindenlassen – das sind Entführungen, an denen staatliche Elemente beteiligt sind. Entweder direkt, weil sie entführen oder indirekt, indem sie das Verbrechen billigend in Kauf nehmen und abstreiten zu wissen, wo die Person ist. Es ist ein kontinuierliches Verbrechen, solange die verschwundene Person nicht gefunden wird, tot oder lebendig. Insofern dauern die Verbrechen aus dem Schmutzigen Krieg weiter an. Der Staat ist dafür verantwortlich, weil seine Elemente daran beteiligt waren. Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit."
Verschwunden, totgeschwiegen, aber nicht vergessen: Das spendenfinanzierte "museo de la memoria indomita" erinnert an die dunklen Kapitel mexikanischer Geschichte und Gegenwart, lässt Angehörige über die Opfer sprechen. Es sei voller Ideologie und Politik, sagt Museumsleiter Jorge Gálvez, weil es sichtbar mache, warum Menschen häufig verschwinden: Sie haben sich gegen die Verhältnisse aufgelehnt.

"Die Ungewissheit ist quälend"

Einige Erinnerungsstücke der Unbequemen machte eine Künstlerin haltbar: eine Brille, ein Püppchen oder eine Postkarte hat sie in Kunstharz gegossen. Sie hängen von der Decke und berühren den Besucher wortwörtlich. Sie lassen erahnen, was Angehörige, wie Jorge Gálvez durchmachen.
Gálvez: "Wir wissen, wer sie verschwinden lassen hat und warum. Und wir wissen, was dann mit ihnen geschieht – dass sie gefoltert werden. Die Ungewissheit über ihr Schicksal ist quälend. Draußen fängt es gerade an zu regnen. Eltern von Verschwundenen denken in so einem Moment sofort: Hoffentlich wird mein Kind nicht nass. Diese Gedanken hören niemals auf. Sie finden niemals Frieden. Wir sind sehr religiös, katholisch. Wenn Du aber nie den toten Körper siehst, findest du dich auch nicht mit dem Tod ab. Der Gedanke, dass dein Angehöriger noch lebt, bleibt."
In Mexiko leben die Angehörigen von etwa 27.000 Menschen in dieser Ungewissheit. Allein in der dreieinhalbjährigen Amtszeit von Präsident Enrique Peña Nieto verschwanden mehr als 13.000 Menschen.
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