Memorial für die Geschundenen

27.10.2012
Karl Marlantes hat sich mit seinem Vietnamkriegsroman Zeit gelassen: 30 Jahre. Entstanden ist dabei ein Epos von fast 700 Seiten, das zunächst die kleinen und großen Probleme des Kriegs und der Kriegseinsätze beschreibt und das in einem großen Schlachten endet.
"Matterhorn" setzt die Tradition des amerikanischen Vietnamkriegs-Epos fort und führt sie auf eine neue Höhe. Schauplatz ist ein Berg an der Grenze zu Laos und Nordvietnam, Hauptfigur der zwanzigjährige Second Lieutenant Waino Mellas. Er kommt frisch vom Campus in Oregon, hat sich freiwillig gemeldet. Teils ist es der Wunsch, nicht als privilegierter Drückeberger dazustehen, teils auch die Vorstellung, dass der eine oder andere Orden später im zivilen Leben nützlich sein könnte.

Auf den ersten hundert Seiten fällt kein Schuss, aber gekämpft wird trotzdem: mit dem Monsunregen und der eiternden "Dschungelfäule" auf der Haut, dem ewigen Dreck und Gestank, der Langeweile und der Angst. Einem Soldaten ist ein Blutegel in die Harnröhre gekrochen - der Urinstau droht den Mann langsam umzubringen. Er windet sich in Schmerzen, kann aber wegen des Dauer-Nebels nicht ausgeflogen werden.

Mellas und seine Soldaten erfüllen Aufträge, deren Zweck nicht ersichtlich ist. Eine Bergkuppe mitten im Dschungel wird rasiert und planiert, die Soldaten graben Unterstände. Dann sollen sie das "Matterhorn" wieder verlassen und im Dschungel nach Vietcong-Waffenlagern suchen. Tagelang irren sie herum, hungernd und dehydriert, sie geraten in Hinterhalte, ein Soldat wird vom Tiger gefressen, zwei sterben an Malaria, andere drehen durch angesichts der allgegenwärtigen Bedrohung. Über Funk erteilt der Kommandeur der taumelnden Truppe immer neue Zusatzaufträge, verweigert aber Nachschub und Proviant. Es ist ein einziger Albtraum. Grenzen des Menschlichen werden ausgelotet.

Erst nach vierhundert Seiten beginnt die eigentlich Schlacht, die das Gepräge "absoluten Irrsinns" hat. Inzwischen haben sich die Nordvietnamesen auf dem "Matterhorn" eingenistet. Gegen die von ihr selbst gebauten Befestigungen soll die Bravo-Kompanie nun anrennen - ein Todeskommando. Mit zeitlupenhafter Genauigkeit werden die aufgerissenen Körper und weggeschossenen Unterkiefer vors Auge gerückt. Das erinnert an den Hyperrealismus des Films "Soldat James Ryan" - mit dem Unterschied, dass Karl Marlantes keine unbekannten Soldaten sterben lässt, sondern Charaktere, die sich aus den Dialogen und Beschreibungen des Romans langsam, aber nachhaltig konturiert haben. Nie gekannte Angst erfasst die jungen Männer, aber die extreme Adrenalinausschüttung führt auch zu mystischen Rauschzuständen.

Das Ausmaß gegenseitiger Aufopferung erstaunt umso mehr, als Marlantes die Bravo-Kompanie nicht gerade als Hort der Eintracht zeichnet. Es gärt gewaltig, vor allem zwischen "Splibs" und "Chucks", Schwarzen und Weißen. Auch zwischen den Kommandeuren und der Truppe herrscht ein grotesk dargestelltes Missverhältnis: Die einen schmoren durstend in der grünen Hölle, die anderen palavern whiskytrinkend am grünen Tisch. Die Logik der Befehle folgt oft nicht der militärischen Notwendigkeit und dient nicht zum Besten der Truppe, sondern zum Vorteil der eigenen Karriere. Mancher stirbt für die Statistik: Hauptsache, den eigenen Verlusten stehen überproportionale Opferzahlen auf Seiten des Vietcong gegenüber.

Dieser Kriegsroman, an dem der 1944 geborene Autor und Vietnam-Veteran dreißig Jahre gearbeitet und den Nikolaus Stingl glänzend übersetzt hat, ist eine blutige Farce, ein Aufschrei des Leidens, ein Memorial für die Geschundenen und Zerfetzten. Eine aufwühlende Lektüre, ein großes Werk.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Karl Marlantes: Matterhorn
Roman. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. Arche Verlag, Zürich 2012, 672 Seiten, 24,95 Euro

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