"Mein 9. November": Emine Sevgi Ozdamar

05.11.2009
Als 19-Jährige kam Emine Sevgi Özdamar 1965 zum ersten Mal nach Deutschland - ohne jegliche Deutschkenntnisse - und arbeitete zwei Jahre lang in einer Westberliner Fabrik. Im Anschluss ging sie zurück nach Istanbul an eine Schauspielschule und spielte fortan hauptberuflich Theater. Inspiriert von den Texten von Heinrich Heine und Bertolt Brecht ging sie 1976 für eine Regieassistenz an die Volksbühne nach Ost-Berlin, wo sie mit Benno Besson und Matthias Langhoff zusammenarbeitete. Seit 1986 lebt und arbeitet sie als freie Schriftstellerin in Berlin. Im Mai 2007 wurde Özdamar in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen.
Ich hatte Sehnsucht, aber ich konnte die beiden Städte nie zusammen denken. Das ist so, wie wenn man sich Mozart und Freddy Quinn auf der gleichen Schallplatte vorstellt. Mauer war aus Zeit. Das war nicht eine Steinmauer. Ich bin immer in eine andere Zeit reingegangen, wenn ich nach Westen ging oder nach Osten, weil die Körper sind ja auch architektonische alte Zivilisationen.

In Westdeutschland gab es sehr viel Information, sehr viele Zeitungen. Überall gab es Wörter, fast als ob die Wörter keine Wirkung hätten. Und in Ostberlin gab es gar kein Wort so. Aber das Wort hatte große Wirkung.

Zum Beispiel arbeitete ich an der Volksbühne, wo ich Benno Bessons Assistentin war. Und da merkte ich auch, dass die Leute - genau wie in der Türkei - genau wissen, also, unter jeder Diktatur wissen die Menschen, wo sie reagieren, wo sie nicht reagieren müssen. Untereinander verständigen sie sich ja über solche gemeinsame Momente. Das war sehr schön z. B. in Ostdeutschland zu sehen.

Ich war schon sehr glücklich, muss ich ehrlich sagen. Ich habe in Westberlin in einer Wohngemeinschaft gewohnt, aber sehr oft auch in Ostberlin gewohnt. Ich liebte mein Leben. Also, ich hatte die Mauer normalisiert sozusagen. Aber ich musste ja nicht mit dieser Mauer leben. Das sagte mir meine Freundin Gabi auch. Sie sagte: "Aber weißt du, du hast eine ganz andere Realität. Mit der Mauer müssen wir leben und du nicht. Du überquerst sie fünf Mal hin und her."