Mehr Rohstoffe, mehr Touristen

Von Irène Bluche · 29.10.2013
Grönland liegt unter einem kilometerdicken Eispanzer. Doch weil die Temperaturen steigen, schmilzt das Eis. Für viele Einheimische ist das ein Grund zur Freude: Sie haben den Eindruck, dass sich ihr Land nicht nur klimatisch, sondern auch wirtschaftlich im Aufwind befindet. Ein Stimmungsbild aus der Hauptstadt Nuuk.
Sämtliche Bewohner von Nuuk scheinen sich heute vor und in der Sporthalle der Stadt zu drängen: Der große Staffellauf des Jahres zieht die Bewohner an. Die Wettkämpfer sind durch die ganze Stadt gelaufen, um in der Halle den Staffelstab an den nächsten zu übergeben. Wer seine Runde geschafft hat, lässt sich von der jubelnden Menge feiern und bedient sich an den langen Buffettischen mit selbstgebackenen Kuchen.

Für die grönländische Hauptstadt Nuuk mit ihren 16.000 Einwohnern ist es das Ereignis.

"Ich komme aus Nuuk, bin hier aufgewachsen, ich liebe Sport, Handball, Volleyball, laufen, das alles kann man hier machen. Nuuk ist eine schöne Stadt, nur das Wetter ist etwas schwierig."

"Wir haben alles, was es in einer Großstadt gibt, Kino, Schwimmhalle und ähnliches. Und wir haben die Natur, wir können von unserem Fenster aus Wale sehen!"

"Ich bin erst letztes Jahr hergezogen, es gibt hier viel mehr Möglichkeiten, als in dem kleinen Dorf, aus dem ich komme. Aber ich werde hier nicht alt werden. Meine Familie lebt hier nicht und es ist teuer, sie zu besuchen."

Die Krankenschwester Helga ist eine von Hunderten, die jedes Jahr von den kleinen Siedlungen an den Küsten in die Hauptstadt ziehen. Dort gibt es nicht nur Arbeit, sondern auch Gymnasien und eine Universität. Und: In Nuuk können die Grönländer Auto fahren, eine Seltenheit in dem eisbedeckten Land.

"Unglaublich viele Künstler und Musiker in Nuuk"
Die Stadt sei europäischer als der Rest des Landes, sagen die meisten, eine richtige Stadt - hübsche bunte Holzhäuser, die neben grauen Hochhausblöcken stehen, Geschäftshäuser mit glänzenden Fassaden, die neben maroden Plattenbauten funkeln. Dem alteingesessenen Fotografen Jørgen Chemnitz ist diese Mischung ein Dorn im Auge.

"Wir haben keine Stadttradition in Grönland, wir wissen gar nicht, wie eine Stadt aussehen sollte. Nuuk zeigt ein zufälliges, chaotisches Stadtbild. Da gibt es ein Stück Straße, da einen Bürgersteig und Gebäude auf beiden Seiten."

Der größte Schandfleck der Stadt war jahrzehntelang der so genannte Block P:

"Das war ein Haus, das war riesig, 200 Meter lang, 500 Menschen haben darin gewohnt, ein Prozent von Grönlands Bevölkerung. Es war fürchterlich. Ich weiß nicht, ob es am Haus lag, aber dort konzentrierten sich alle möglichen sozialen Probleme."

Die Bewohner stammten eigentlich aus losen Siedlungen an den Küsten und in den Fjorden. Als Dänemark in den 60er-Jahren beschloss, die Grönländer in Städten anzusiedeln, entstanden diese Sozialwohnungen. Die Folgen: Alkoholismus, Gewalt, Armut. Im letzten Jahr wurde Block P abgerissen, als Ersatz wurden moderne Häuser am Stadtrand errichtet. Das Herz der Stadt ist die Fußgängerzone Immernaq. Hier liegt nicht nur die einzige Shoppingmall des Landes, hier gibt es nicht nur Bars und Cafés, sondern auch das Rathaus, das Parlament, die Landesbibliothek und das Kulturzentrum.

"Die grönländische Kulturszene ist sehr reich. Wir haben unglaublich viele Künstler und Musiker. Sie können nicht davon leben, aber viele üben ihre Kunst trotzdem aus. Das ist hier typisch, zum Beispiel bin ich Künstlerin und gleichzeitig Direktorin hier. Viele meiner Mitarbeiter sind Musiker, haben aber bei uns ihren festen Job."

Julia Pars ist die Leiterin des Katuaq. So wie sie und ihre Mitarbeiter müssen sich viele Grönländer mit mehreren Jobs über Wasser halten. Bei nur 56.000 Einwohnern im ganzen Land ist es nicht einfach, genügend Fans, Käufer oder Kunden für eine bestimmte Sparte zu finden. Typisch ist auch Julia Pars Biographie: Sie wurde in Grönland geboren, ging in Dänemark zur Schule und studierte dort.

"Ich habe aber immer gewusst, dass ich zurück nach Grönland gehen würde, um dort zu arbeiten und meine Kraft einzusetzen. Kultur ist mein großes Interesse, ich möchte darüber informieren, wofür Grönland steht, das bedeutet mir sehr viel."

Auch der Direktor des Kunstmuseums Mike Andersen, nur ein paar Häuser weiter gelegen, ist nach seinem Studium in Paris nach Grönland zurückgekehrt.

30 Jahre ist Museumsdirektor Mike K. Andersen erst alt - nichts Ungewöhnliches in Grönland, wo vor allem die wenigen Akademiker schnell nach oben kommen.

"Der Maler ist bekannt für seine stimmungsvollen Bilder von Eisbären, das ist eines seiner Kennzeichen. Dieses Bild heißt: 'Eisbär nähert sich kleinem Haus im Schneesturm.'"

Nach Nuuk verirren sich allerdings kaum noch Eisbären. Überhaupt werden es wegen der Klimaerwärmung immer weniger werden.

""Der Skiverein muss immer wieder um Schneekanonen bitten, damit der Skilift betrieben werden kann. Wenn ich mich mit den alten Jägern unterhalte, sagen sie alle, dass es merkwürdig geworden ist, das Wasser braucht immer länger um zu frieren und taut sehr schnell wieder auf."

Dennoch sieht Andersen Vorteile in der Erwärmung des Landes:

"Es ist vielleicht schlimm das zu sagen, aber für uns ergeben sich durch den Klimawandel auch ganz neue Möglichkeiten: Die Nordwest-Passage ist für Schiffe wieder befahrbar. Es gibt neue Möglichkeit in der Rohstoff- und Ölförderung. In Südgrönland fangen wir an, Erdbeeren zu züchten! Im Gewächshaus zwar, aber immerhin."

Blick auf die grönländische Hauptstadt Nuuk
Blick auf die grönländische Hauptstadt Nuuk© Yorck Großkraumbach
"Wir haben ein sehr empfindliches Ökosystem"
Etwas anders sieht das sein Nachbar Eivind Elsner. Ihm gehört das einzige Musiklabel des Landes "Atlantic Music". Über Online-Handel vertreibt er weltweit grönländische Musik. Gemeinsam mit seiner Frau und seinen Söhnen verkauft er in seinem blauen Holzhaus CDs und Musikinstrumente. Die Möglichkeit, dass bald ausländische Investoren Öl fördern könnten, gefällt ihm nicht:

"Wir haben ein so empfindliches Ökosystem, dass es Grönland sehr schlecht gehen wird, wenn man nicht aufpasst. Ich glaube nicht an Öl, ich glaube nicht an Uran, ich glaube, dass das Rohstoffe sind, die es auf der Welt lieber nicht geben sollte."

Doch genau von den Rohstoffen erhoffen sich viele Grönländer die Unabhängigkeit von Dänemark, zu dem es seit fast 300 Jahren gehört. Jedes Jahr erhält Grönland von Dänemark den so genannten "Block Grant", 3,2 Milliarden Dänische Kronen, etwa 430 Millionen Euro. Ohne den Block Grant könnte das wirtschaftlich schwache Land nicht überleben.

Doch das kann und soll sich ändern, wenn es nach der aktuellen Regierung geht. Eine selbstständige Wirtschaft dank Rohstoffförderung sei der direkte Weg zur baldigen Unabhängigkeit, möglichst ohne ausländische Investoren. Damit hat die Regierung die Wahlen gewonnen. Gewählt wurde sie nicht von den Hauptstädtern, sondern von den Wählern in ländlichen Gebieten, die Angst vor Überfremdung haben. Zwar wünscht sich die Musikerin Kimmernaq, die gerade ihre neueste CD bei Atlantic Music produziert hat, ebenfalls ein selbstständiges Grönland - aber nicht sofort:

"Ich denke, wir müssen dafür bereit sein. Von allen indigenen Völkern wären wir das erste, das selbstständig wird. Wir sind die Mehrzahl in unserem Land, die Mehrzahl der Bewohner spricht unsere Sprache."

Zwar bilden die Nachfahren der Inuit die Mehrheit der Grönländer – über 90 Prozent. Doch von den zehn Prozent Dänen des Landes sind sie kaum zu unterschieden, da fast jeder aus gemischten Ehen stammt, so wie Kimmernaq, die eine Mutter mit Inuit-Wurzeln hat und einen dänischen Vater. Sie ist eine der erfolgreichsten Sängerinnen des Landes, die in der Landessprache Inuktitut singt, zurzeit ein großer Trend bei jüngeren grönländischen Musikern.

"In unserer eigenen Sprache können wir besser unsere Tradition thematisieren. Das macht es interessant, das findet man nicht woanders. Da wo du herkommst, das ist wertvoll."

Kimmernaq und Eivind Elsen beobachten aufmerksam die Politik der neuen Regierung:

"Ich hoffe, dass die Politiker erwachsen genug sind, das Richtige zu tun. Auch, wenn es für sie sehr schwer sein muss, für die nachfolgenden Generationen entscheiden zu müssen, was das Richtige ist."

Gold, Edelsteine und die begehrten Seltenen Erden
Einer dieser Politiker ist Pertti Fransen, der im Rat der Stadt Nuuk sitzt, aber der Oppositionspartei angehört. Im Café des Kulturzentrums Katuaq gegenüber dem Rathaus hat er Zeit für ein Interview:

"Uns ist klar, dass es eine öffentliche Kontrolle geben muss - für die Umwelt und für unsere Bevölkerung, auch bei der Ölförderung. Die Bergbaugesellschaften wollen keine politischen Unsicherheiten, um langfristig hier investieren zu können."

Unter Grönlands kilometerdickem Eis verbergen sich nicht nur Öl und Uran, auch Gold, Edelsteine und die begehrten Seltenen Erden, die unter anderem für Plasmabildschirme oder in der Radiologie eingesetzt werden.

"Es ist unumgänglich, dass wir Bergbau in Grönland haben und andere Rohstoffförderungen. Wir können nicht selbstständig werden ohne die Minen- und Ölindustrie."

Die grönländische Wirtschaft lebt auch vom Tourismus, noch im bescheidenen Ausmaß, aber Pertti Fransen hofft auf mehr Nordreisende:

"Grönland wird immer ein attraktives Land sein, in das Leute kommen. Allein schon, weil wir so wenige sind. Es gibt das Eis und das Meer, die Natur, die Wildmark. Wir haben ein großes Potential für den Ökotourismus. Aber wir sind nicht mal 60.000 Menschen in Grönland. Es gibt Grenzen für die Zahl von Touristen, die wir vertragen können."

Noch sind Touristen in Nuuk etwas Besonderes. Wer hier in der Nebensaison die berühmten grönländischen Wale sehen möchte, der kann eine gute Woche Wartezeit einplanen: Erst wenn sich genügend Reisende gemeldet haben, kann die Tour beginnen, Mindestzahl sechs. Michael Rosing ist einer der wenigen Anbieter von Whalewatching-Touren. Mit seinem kleinen Motorboot fährt er von Mai bis November Touristen, aber auch Meeresbiologen oder Jäger in das riesige verästelte Fjordsystem, das Nuuk umgibt. Es ist eines der größten der Welt.

Michael Rosing steuert sein Boot schnell von der Stadt weg, um die lange Strecke in den Fjord bewältigen zu können und um den Touristen das zu bieten, was zu jeder Grönlandreise gehört: Wale.

"Speziell heute ist das Wasser ruhig, da kann man sie gut sehen. Man erkennt die Wasserfontäne, die sie auspusten, die bleibt eine Weile über dem Wasser hängen."

Wer Glück hat, kann sogar Blauwale entdecken – heute allerdings wagt sich nur ein Buckelwal in die Nähe des Bootes. Für Michael Rosing wird es immer schwieriger, seinen Gästen die Wale zu zeigen:

"Mich stört, dass sie die Wale töten, die ich den Touristen zeigen möchte. So lange die Population groß genug ist, ist es in Ordnung, Wale zu töten. Ich esse auch gerne Walfleisch. Aber es gibt Wale, von denen wir zu viele töten. Das ist sehr problematisch. Grundsätzlich kann ich keinen moralischen Unterschied sehen, einen Wal zu töten oder Kühe oder Hühner zu schlachten. Die Wale haben in Freiheit gelebt und mit Sicherheit ein besseres Leben geführt als viele der Kühe, die man in Europa isst."

Ein Grönlandwal (lat.: Balaena mysticetus) beim so genannten Abtauchen, nur noch die Schwanzflosse ist zu sehen. Grönlandwale sind Glattwale und gehören zur Familie der Bartenwale.
Ein Grönlandwal beim so genannten Abtauchen, nur noch die Schwanzflosse ist zu sehen.© picture alliance / dpa / Hinrich Bäsemann
"Wenn das Eis schmilzt, haben wir mehr Land"
Bleibt das Eis als weitere Attraktion für Touristen: Je tiefer das Boot in den Fjord fährt, desto mehr Eisberge treiben majestätisch vorbei. Haushohe graue Quader, schneeweiße skurril geformte Türme, türkis schimmernde schwankende Phantasiewesen. Sie alle stammen vom selben Gletscher, der in eine dichte Nebelwand gehüllt am Ende des Fjords scheinbar ruht und doch immer in Bewegung ist.

Der Gletscher war noch vor einigen Jahren größer, sagt Rosing. Dennoch hat auch er keine Angst vor der Klimaerwärmung:

"Nein, ehrlich gesagt nicht. Wenn das Eis schmilzt, haben wir mehr Land. Auf lange Sicht ist das nicht so schlecht. Wir kriegen mehr Fischarten. Unsere Probleme werden viel kleiner sein als die in Afrika oder Europa, wo es sehr trocken wird."

Es wird Zeit, umzukehren. Rosing startet den Motor seines kleinen Bootes. Trotz aller Liebe zu seinem Land muss Rosing noch hinzufügen: Vieles in Grönland laufe falsch: Viele Politiker seien korrupt, das Bildungssystem schlecht und die Wirtschaft noch viel zu schwach, um den Plänen der derzeitigen Regierung von einem unabhängigen Grönland gewachsen zu sein:

"Das ist ein Traum, selbstständig zu sein. Die Leute glauben, dass wir glücklich wären, wenn wir von Dänemark unabhängig sind. Aber wenn es nicht Dänemark ist, dann werden wir von jemand anders abhängig."

Vier Stunden fährt das Boot zurück durch die weiten Fjorde, vorbei an den leise knackenden Eisbergen. Kein anderes Boot kreuzt den Weg, einmal kreisen am Himmel zwei Seeadler. Zurück an Land erscheint selbst die kleine Stadt Nuuk hektisch und sehr urban.
Eisberg in der Mitternachtssonne vor Ilulissat
Eisberg in der Mitternachtssonne© Monika Seynsche