Medienkritik

Weltkrieg als Kalendergeschichte

Von Ulrich Baron · 16.01.2014
In diesem Jahr reden wir viel vom Ersten Weltkrieg, der 1914 begonnen hat. Der Literaturwissenschaftler Ulrich Baron hat Dutzende Neuerscheinungen dazu gelesen und sagt: Bücher und Debatten müssen zur rechten Zeit kommen – und nicht nur zum richtigen Termin.
Wäre es nach den Verlagen gegangen, dann hätte der Erste Weltkrieg schon im Spätsommer 1913 begonnen. Bereits im September letzten Jahres wurde die Materialschlacht der Neuerscheinungen zum 100. Jahrestag mit dem Paukenschlag von Christopher Clarks "Die Schlafwandler" eröffnet. In die wachsende Phalanx neuer Bücher reihte sich im Dezember auch Herfried Münklers "Der große Krieg" ein. Wenn dann, wie geplant, im Februar dieses Jahres von Jörn Leonhard "Die Büchse der Pandora" geöffnet wird, wenn im März mit Sean McMeekins "Juli 1914" der "Countdown in den Krieg" beginnt, dann werden die meisten Medien und Rezensenten die Büchse längst geöffnet und den Countdown längst begonnen haben.
Sollten wir dennoch durchhalten bis zum hundertsten Jahrestag der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien am 28. Juli, oder gar bis zu denen der deutschen Kriegserklärung an Russland am 1. August und an Frankreich am 3. August 1914 – dann werden wir uns längst selbst in Schlafwandler verwandelt haben: Müde des Kriegs und noch müder des Kriegsgedenkens, aber besser informiert als über jeden anderen Jahrestag zuvor. Dabei stehen uns vier lange Jahre voller Gedenktage an Schlachten und Aufstände, an Kriegsgräuel und Todestage, Revolutionen und Kapitulationen bevor, bis wir uns dann, kurz vor Weihnachten 2018, auf den achtzigsten Jahrestag des Zweiten Weltkriegs werden umstellen können.
Derweil lebt in Historikern und Feuilletons der Geist eines Homer fort, eine Neigung zum großen Epos, zur dickleibigen Monographie über weltbewegende Ereignisse samt ihrer Vor- und Nachgeschichte. Warum nur? Gerade dieser Große Krieg der Welt legt doch ein enzyklopädisches Herangehen nahe, eine multinationale Zusammenarbeit vieler Spezialisten und Spezialistinnen aus unterschiedlichen Fakultäten und mit widerstreitenden Perspektiven. Doch nach viel versprechenden Ansätzen der letzten Jahrzehnte, auch die Stimmen der kleinen Leute und literarische Quellen auszuwerten, scheint sich zumindest ein Teil der Historiker auf erprobtes Terrain zurückgezogen zu haben.
Das Bild der Geschichte bleibt unvollkommen
Und das Feuilleton? Einem Walter Kempowski und seinem "Echolot" hat es zu Füßen gelegen. Doch die Dokumentarromane eines Theodor Plievier über Seekrieg und Revolution sind ihm bis heute egal. Und über einen Ernst Jünger weiß man zwar immerhin, dass er sein Fronttagebuch "In Stahlgewittern" in unterschiedlichen Fassungen veröffentlicht und den Krieg heroisiert hat. Dass er seinen jüngeren Bruder Friedrich Georg im Juli 1917 schwer verwundet auf dem Schlachtfeld gefunden und ihm durch sein Eingreifen wahrscheinlich das Leben gerettet hat, zählt aber zu jenen meist überlesenen Marginalien, ohne die unser Bild der Geschichte unvollkommen bleibt.
Denn wir leben eben nicht auf dem Feldherrenhügel; auch wenn brillante Historiker wie Clark und Münkler uns bisweilen auf ihre Schultern nehmen. Ob in Politik oder im Feuilleton leben wir weit darunter in einer Tretmühle von Jahres- und Gedenktagen. Aus dem Nachdenken über Geschichte ist ein getaktetes Gedenken geworden. Während viele Soldaten 1914 aus freien Stücken auf die Felder der Ehre zogen, befiehlt uns heute der Kalender, darauf zurückzuschauen. Nun mag es interessant sein, zu wissen, was damals im großen Ganzen geschah. Doch wirklich bedeutsam ist für uns, was damals verging und was bis heute fortwirkt.
Wer die Verluste von damals nicht als seine eigenen zu verstehen vermag, wer die Nachbeben jener großen Katastrophe nicht zu erspüren weiß, dem helfen die rundesten Geburtstage nicht weiter. Statt sich auf Jahrestage zu stürzen wie die Schlafwandler von 1914 in den Krieg, sollten wir uns von deren Diktat befreien. Was an der Geschichte von aktueller Bedeutung ist, sagt uns nicht der Kalender, sondern das eigene Nachdenken. Bücher helfen auch, wenn sie uns zur rechten Zeit erreichen und nicht nur zum richtigen Termin.
Ulrich Baron, geboren 1959 in Hamburg. Der Literaturwissenschaftler arbeitet als leitender Redakteur für Literatur und Sachbücher beim "Rheinischen Merkur" und "Die Welt". Ulrich Baron lebt als freier Autor in Schleswig-Holstein. Seine Schwerpunkte: Literaturkritik, Kultur-, Natur-, Krieg- und Wirtschaftsgeschichte.
Der Literaturwissenschaftler Ulrich Baron
Ulrich Baron, Literaturwissenschaftler© Johannes Nieder
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