Magische Beunruhigung

20.09.2013
Zeitversetzt bringt der österreichische Autor Thomas Stangl seine Figuren ins Spiel: Er begleitet zwei Schwestern im Jahr 2000 durch Wien, auf deren Fotografien ein Dritter 15 Jahre später stößt. So poetisch wie verrätselt beschreibt Stangl das Auseinanderfallen ihrer Innen- und Außenwelt.
Ein Mann läuft durch Wien. Er sucht nichts, vermutlich nicht einmal sich. Dr. Steiner ist pensioniert und innerlich leer. Ist ein Schatten seiner selbst, wenn er denn je ein Selbst hatte. Seine Frau kommt und geht. Und dann geht sie ganz und lässt ihn zurück in seinem grauen Nichts.

Auf einem seiner Wege findet er eines Tages zwei Filme und lässt sie entwickeln. Und auf einmal beginnt ein Suchen und Fragen. Wer sind die jungen Mädchen auf den Fotos, wo liegt die abgebildete Wohnung, wer ist Monica Stanek, deren Begräbnis auch fotografiert ist? Er ist wie elektrisiert. Endlich gibt es ein Leben und Sterben, das ihn bannt.

Eine Studentin demonstriert hasserfüllt gegen die neue rechtslastige Regierung. Sie ist überzeugt, dass Österreichs Untergang bevorsteht. Auf allen Protestzügen ist sie dabei - fühlt sich für wenige Stunden endlich einmal einer wirklichen Welt zugehörig.

Seit der Vater sich umgebracht hat, die Mutter kaum noch auftaucht und die kleine Schwester immer wieder aus der gemeinsamen Wohnung verschwindet, lebt sie beziehungslos. Liebt nur ihre Schwester Mona. Dieses merkwürdige, zarte und verlorene Mädchen, das nun schon seit Wochen nicht mehr heimkommt. Sie fotografiert Monas Zimmer. Während Mona durch die Stadt stromert - wie Dr. Steiner. Nur gefährlich verwahrlosend und ungefähr 15 Jahre früher.

Unerlöstes Sein in einer verrottenden Gesellschaft
Thomas Stangl ist ein Autor, der scheinbar parallele Geschichten gern zeitversetzt erzählt. Er lädt uns nicht ein, uns einzunisten in eine Zeit, eine Geschichte, in Beziehungen gar. Wir müssen als Leser schon eigene Arbeit leisten, um disparate Figuren und sich wiederholende Sätze einzuordnen in das Geschehen und Nichtgeschehen des Romans. In so poetischer wie verrätselter, hin und wieder fast halluzinatorischer Dringlichkeit beschreibt Stangl das Auseinanderfallen von Innen- und Außenwelt. Das unerlöste Sein in einer verrottenden Gesellschaft. Den erhofften und gefürchteten Selbstverlust im Nichts.

Es entsteht ein sprachlich virtuos erzeugter Sog einer unheimlichen, einer magischen Beunruhigung. In der man sich als Leser verliert wie die Figuren in ihrem Leben. Nicht immer begreifen wir die Wege, die diese drei gehen, schon gar nicht dort, wo sie zusammentreffen. Und doch bleiben wir ihnen oft atemlos auf den Fersen. Es zerrinnt die eigene Ruhe, und wir tanzen uns selber hinein in die Auflösung.

"Regeln des Tanzes", so der Titel des Romans. Und tanzen heißt hier, die Regeln der Gesellschaft hinter sich lassen zu können. Wir lesen den Tanz der Freiheit, den Tanz der Finsternis. Beide Schwestern tanzen. Und am Ende lässt sich sogar Dr. Steiner auf einen merkwürdigen Tanz ein.

Stangl schreibt sich hinein in seine Visionen von privatem wie politischem Untergang. Entwickelt Fantasien, die so kantig hart wie mysteriös sind. So verstiegen gar, dass man manche der geheimnisvollen Bilder von plötzlich auftauchenden Erinnerungen, Menschen oder Hirngespinsten eher ratlos liest. Vielleicht ist es das, was Stangl uns zeigen möchte: Das Leben ist eine konfuse Angelegenheit.

Besprochen von Gabriele von Arnim

Thomas Stangl: Regeln des Tanzes
Droschl Verlag, Wien 2013
280 Seiten, 22,00 Euro
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