Liberaler Anti-Western ohne heroischen Gestus

Von Marli Feldvoß · 24.07.2012
"High Noon" gehört zu den Filmen, die für viele Interpretationen offen sind: vom klassischen Western über das psychologische Drama bis zur politischen Allegorie. Für Hauptdarsteller Gary Cooper war es die beste Rolle seines Lebens. Am 23. Juli 1952 kam "High Noon" in die New Yorker Kinos.
Bereits vier Monate vor dem Filmstart von "High Noon" (Zwölf Uhr mittags) kletterte der Titelsong, interpretiert von Country-Sänger Tex Ritter, in den Charts nach oben und warb für einen Film, der nicht nur für Hauptdarsteller Gary Cooper und Drehbuchautor Carl Foreman, sondern auch für Filmmusik und Lied einen Oscar erhalten sollte. Nur Regisseur Fred Zinnemann und Debütantin Grace Kelly gingen leer aus. Erfolg auf der ganzen Linie für eine Billigproduktion, von der man sich nicht viel erwartete und einen Star, der sich gerade von der Leinwand verabschieden wollte. Cooper war mit seinen natürlichen Falten und seiner rührenden Verletzlichkeit die richtige Besetzung für den "müden Helden". Die Hochzeit des Sheriffs Will Kane mit der viel jüngeren Quäkerin Amy alias Grace Kelly zu Anfang des Films erscheint wie ein symbolischer Akt für den Start in ein neues Leben. Doch genau das droht der vorzeitig aus dem Gefängnis entlassene Gangster Frank Miller, der Kane ewige Rache geschworen hat, mit seinen Kumpanen zu vereiteln.

Amy: "Wir haben noch eine Stunde Zeit."
Will: "Was ist eine Stunde ..."
Amy: "Dann wären wir vielleicht schon ..."
Will: "Das sind hundert Kilometer, glaub mir, wir könnten nicht mal in Ruhe unser Geschäft führen, Amy wir müssten immer wieder vor ihnen davonlaufen. Solange wir leben."
Amy: "Ganz bestimmt nicht. Dazu müssten sie uns erst finden. Will, ich flehe Dich an. Bitte lass' uns gehen."
Will: "Ich kann nicht."
Amy: "Warum willst Du unbedingt ein Held sein? Ich lege keinen Wert darauf, dass Du ein Held bist."
Will: "Ich habe auch gar nicht die Absicht, einer zu werden. Wenn Du denkst, dass ich es gerne tue, dann irrst Du Dich sehr."

Von nun an läuft der Countdown - bis "Zwölf Uhr mittags". Bis zuletzt ist der Sheriff auf der Suche nach Unterstützung, aber das ganze Dorf verweigert sich – auch die alten Freunde. Das visuelle Konzept des Films, das Warten der Gangster auf den Zug und ihren Anführer, das parallel zum Warten des Sheriffs auf Hilfe montiert ist, wird zum Spannungsträger. Will Kane ist kein heroischer Westernheld, sondern ein ganz normaler, von Ängsten und Zweifeln geplagter Mann, der in einen existenziellen Konflikt gerät. Eine typische Zinnemann-Figur. Ein Einzelgänger mit einem starken Pflichtgefühl und Willen, der nicht gegen sein Gewissen handelt. Fred Zinnemann ist seiner Zeit voraus, wenn er den klassischen Western damit ins Realistische kehrt und dem amerikanischen Mythos das Wasser abgräbt.

"Ich habe einfach eine Story gelesen, die mich sehr angerührt hat, weil sie sehr menschlich war, in dem Sinn. Ohne weitere Gedanken. Ich war nicht darüber begeistert, weil es ein Western war. Ich wollte auch das Hollywood-System nicht angreifen. Ich wollte einfach einen Film machen, der mich sehr interessiert."

Fred Zinnemann widerspricht auch den Interpreten, die in "High Noon" eine Allegorie auf den Koreakrieg oder einen Kommentar zur McCarthy-Zeit sehen wollen. Er räumt ein, dass allenfalls Drehbuchautor Carl Foreman, der als Kommunist auf der sogenannten schwarzen Liste stand, die damalige "schweigende Mehrheit" anprangern wollte. "High Noon" gilt heute als Musterbeispiel eines liberalen Anti-Western, der den heroischen Gestus und den anarchischen Individualismus des Genres ablehnt. Das Versagen der kollektiven Gemeinschaft macht Sheriff Kane zwar zu einem einsamen und gleichzeitig gebrochenen Helden. Mit seiner Offenheit und seinem Verzicht auf eine ideologische Position verführt der Film zu immer wieder neuen Deutungsmustern.

Der letzte Refrain des Songs verweist allein auf den Helden und unterschlägt den Anteil der Sheriff-Gattin Amy, die zwar eine ausgewiesene Gewaltgegnerin ist, dennoch mit einem entscheidenden Revolverschuss am Sieg und am Happy-End beteiligt ist. Dem "müden" Helden steht damit eine Frau zur Seite, die nicht mehr zwischen Held und Gesellschaft versöhnt, sondern aktiv ins Geschehen eingreift. Auch darin zeigt sich, dass Regisseur Zinnemann weniger an der Gattung "Western" interessiert war, als an einem Stoff, der neue Rollenbilder in den Blick nimmt. Seine raffiniert einfache, eigentlich konventionelle Machart macht "High Noon" bis heute zu einem fesselnden Filmerlebnis.