Lernen durch das Gegenüber

Rezensiert von Barbara Leitner · 16.08.2006
Ein Kind lernt von seiner ersten Minute an. Selbst ein Säugling versucht bereits zu ergründen, was andere fühlen und denken. Wie sich Eltern und Erzieher verhalten sollten und welche Rolle Kinderbetreuung in diesem Zusammenhang spielt, erklärt der Soziologe, Psychologe und Psychotherapeut Martin Dornes in seinem Sachbuch.
Auf der Titelseite ist ein Bild von Renoir abgebildet. Man sieht einen vielleicht einjährigen Jungen, der auf dem Schoß der Mutter sitzen. Gebannt beobachtet er, was sie tut. Sie bewegt ein Stofftier, eine Kuh vielleicht. Das Kind selbst hält einen ähnlichen Gegenstand in der Hand und ahmt auf seine Weise nach, was es erlebt. Mit diesem Gemälde aus dem Jahre 1895 setzt Renoir den Geist dessen ins Bild, was der Frankfurter Entwicklungspsychologe und Analytiker Martin Dornes in seinem Buch "Die Seele des Kindes" spannend beschreibt.

"Dass die Fähigkeit der Eltern, schon kleinste Kinder als denkende und fühlende Wesen zu betrachten, einen erheblichen (positiven) Einfluss auf deren weitere Entwicklung hat."

Von Dornes selbst wissen wir, dass der Säugling kompetent ist, so der Titel seines Bestsellers von 1993. Nun lesen wir, dass dieses befähigte Kind mit seiner Geburt ein Interaktionsangebot in die Welt bringt, was von Anbeginn an eine angemessene Antwort von seinen Eltern und Betreuern erwartet.

"Der äußere Andere wird eingeladen, einen (seelischen) Raum zu betreten, der schon für ihn vorbereitet, aber noch nicht vollständig möbliert ist. Das Subjekt ist nicht leer und füllt sich durch Verinnerlichung, sondern eine geglückte Verinnerlichung findet überhaupt nur statt, wenn der tatsächliche Andere sich in einer Weise präsentiert, die der Säugling als übereinstimmend mit seinem virtuellen Anderen empfindet."

Keine Maschine kann das Wesen des Kindes in dieser Weise entdecken. Denn sekundengenau und hochsensibel scannen die Säuglinge, ob die Reaktion ihres Gegenübers stimmig mit ihrer inneren Welt ist und sie zu einem wechselseitigen Tanz einlädt. Dabei löst bereits die Beobachtung bei dem Kind neuronale und muskuläre Aktivitäten und auch Gefühle aus, durch die es etwas von dem Anderen erfährt. Denn an allem, was geschieht, ist das Kind vom ersten Moment an aktiv beteiligt.

"Diese Fähigkeit zur unmittelbaren gefühlshaften Teilhabe ist nicht das Ergebnis, sondern die Voraussetzung von (kulturellen) Lernprozessen beziehungsweise selbst ein grundlegender Lernmechanismus, der uns mit einem Wissen versorgt, das uns ohne ihn nicht zugänglich wäre."

Dabei lernt das Kind nicht nur von, sondern auch durch den anderen. Mit neun Monaten begreift es, dass ein Objekt, auf das es neugierig ist, auch gefährlich sein kann und lernt die Perspektive zu wechseln. Gegen Ende des zweiten Lebensjahres behandelt das Kind im Spiel den Löffel, als sei es ein Auto und ahmt dabei nicht nur Handlungen nach, sondern begreift, dass wir selbst die Dinge mit Bedeutung ausstatten. Dabei braucht es dringend die Antwort der Erwachsenen, um sich selbst kennen zu lernen.

"Ob die Mutter angemessene Kommentare auf die vermutete seelische Verfassung des Säuglings gibt, (hat) einen positiven Einfluss auf die spätere Bindungssicherheit."

Die Mutter sieht nicht nur, dass das Kind lächelt. Sie spiegelt ihm auch: ‚Ah, Du freust dich!’ und zeigt ihm auf ihren Gesicht wie auf einem Bildschirm, was es fühlt. Allerdings müssen nicht die Mütter die engen Betreuungspersonen sein, wie Dornes in zwei eigene Kapiteln behandelt. Väter können genauso kompetent mit Säuglingen umgehen und die Persönlichkeit der Betreuenden ist wichtiger als deren Geschlecht. Und auch was die Berufstätigkeit der Mutter und die Fremdbetreuung des Kindes anbelangt, fragt der Wissenschaftler mit ausdrücklicher Sachlichkeit: Was sagen die Studien? Wird die emotionale oder kognitive Entwicklung des Kindes durch einen frühen Besuch in der Kita gestört und entstehen dadurch möglicherweise gerade bei Jungen später Aggressionen? Nein, seine klare Antwort:

"Diese Ergebnisse besagen im Kern, dass die Qualität der Mutter-Kind-Beziehung ziemlich robust die Bindungsqualität bestimmt und dass nicht-elterliche Betreuung von guter Qualität diesbezüglich nicht kompensiert und solche von mäßiger Qualität nicht schadet."

Wie die Seele des Kindes sich entwickelt, hängt vielmehr vor allem von der emotionalen Anerkennung ab, die die Jüngsten selbst und die sie betreuenden Erwachsenen bekommen.

"Menschliche Interaktions- und Kommunikationsverhältnisse unterscheiden sich von tierischen dadurch, dass sie einen 'Überschuss' enthalten, der darin besteht, dass in ihnen Einstellungen transportiert werden, die als emotionale Bewertungen wahrgenommen werden und deshalb für die Entwicklung eines (gesunden) Verhältnisses zu sich selbst von ebenso elementarer Bedeutung sind wie Nahrung und Schutz für das Überleben."

Damit liefert Martin Dornes ein gehaltvolles und herausforderndes Grundlagenwerk zur gegenwärtig Diskussion um die frühe Förderung von Kindern und den weiteren Ausbau der Kinderbetreuung auch für unter Dreijährige.

Mehr als 1000 Quellen zitiert der Autor und trotz dieser Detailfülle wie auch seiner anspruchsvollen Wissenschaftssprache gelingt es ihm immer wieder, auch den interessierten Laien mitzunehmen. Für ihn fasst er die Erkenntnisse jeweils mit wenigen Worten zusammen und erläutert das Gesagte mit anschaulichen Beispielen.

Dennoch: Das Buch ist nicht in erster Linie für Rat suchende Eltern geschrieben. Es ist aber in Politik, Verwaltung und Organisationen all denen zu empfehlen, die noch immer unterschätzen, welche Weichen für die Persönlichkeitsentwicklung in den frühen Jahren gelegt werden und in diesen Bereich nicht investieren wollen.

Martin Dornes: Die Seele des Kindes. Entstehung und Entwicklung.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2006
437 Seiten, 10,95 Euro