Leidvolle Erinnerungen an das Wilner Getto

03.07.2009
Der jüdische Schriftsteller Abraham Sutzkever wurde 1941 ins Wilner Getto deportiert, schloss sich den Partisanen an und konnte fliehen. In den zwei Bänden von "Wilner Getto 1941-1944. Gesänge vom Meer des Todes" schildert der heute in Tel Aviv lebende Autor seine Erinnerungen in Prosa und Gedichten.
" ... als ich am 22. Juni frühmorgens das Radio anschloß, da sprang es mir entgegen wie ein Knäuel Eidechsen: ein hysterisches Geschrei in deutscher Sprache. Aus all dem Lärm folgerte ich nur: Das deutsche Militär war über unsere Grenzen ins Land gedrungen."

Mit diesen Worten einer überraschten Verwirrung beginnen Abraham Sutzkevers Aufzeichnungen über das Getto von Wilna (Vilnius), eine jener wahrhaftigen Höllen, die Hitlers Vernichtungswahn für die Juden Osteuropas einrichtete. Der Dichter Sutzkever hat diese Hölle durchmessen, seine Aufzeichnungen gehören zum Erschütterndsten, was zum Thema aufgeschrieben worden ist. Das liegt ganz wesentlich am Ton jener objektivierenden Unmittelbarkeit, in der diese Aufzeichnungen verfasst sind. Es sind Texte eines betroffenen Zeugen, der dabei streng darauf achtet, vorwiegend zu schildern, das äußerlich Erlebte mit vielen Details zu rekonstruieren.

Die Wucht des Grauenvollen, die Dimension des Leidens treten auf diese Weise umso schärfer hervor. Sie zeigen sich am Schicksal des Autors selbst, der in wechselnden Verstecken, mit viel Glück und List, unter Aufbietung der letzten Faser seines Überlebenswillens die Bestialitäten des Getto-Lebens übersteht, nicht zuletzt, weil er sich dem bewaffneten Widerstand anschließt und schließlich zu einer Partisaneneinheit fliehen kann. Sie zeigen sich aber auch am Beispiel der vielen, die in diesem Kosmos des Schreckens die Bahnen des Autors kreuzen, und die im unbarmherzigen Getriebe dieser Bestialitäten zu Tode kommen.

Abraham Sutzkevers Getto-Aufzeichnungen sind vor allem eine Chronik des Leidens, aber nicht nur. Ein zentrales Kapitel dieses Textes vertritt die Antithese zum Konzept des Vernichtens, des Tötens, der Unmenschlichkeit. Hier geht es um die enormen Anstrengungen der Getto-Juden, ein Stück Zivilisation in die Zwangswelt der "Untermenschen" zu retten: Schule, Konservatorium, Bibliotheken, Theater, medizinische und soziale Dienste organisieren sich noch unter den Bedingungen einer Repression, wie sie brutaler kaum sein könnte.

""Mein Volk, du mußt dich für dein Schwert entscheiden, / wenn Gott zu schwach ist für Gerechtigkeit","

heißt es am Ende eines Gedichts, das Sutzkever nach seiner Aussage als Zeuge vor dem Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunal am 27. Februar 1946 schrieb. Sind die Getto-Aufzeichnungen von einem starken Objektivierungsdrang gekennzeichnet, offenbart sich in den Dichtungen ein großer Poet, der in den höchsten Tönen die Zwiesprache mit den letzten Dingen sucht. Das Bewusstsein, einem "biblischen" Volk anzugehören, sucht nach kosmologischen Horizonten und einer Schönheit der Sprache, die nicht selten irritiert. Denn immer sind diese Gedichte verbunden mit der Erfahrung des konkret erlebten Grauens, mit den Qualen des Überlebenden, mit den Schmerzen großer Verluste.

Abraham Sutzkever ist ohne jeden Zweifel eine der großen Figuren der jiddischen Literatur. Dass er mit dieser Ausgabe praktisch der Versenkung entrissen wird, ist nur zu begrüßen. Auch wenn die Lektüre schmerzt.

Besprochen von Gregor Ziolkowski

Abraham Sutzkever: Wilner Getto 1941-1944. Gesänge vom Meer des Todes
Aus dem Jiddischen von Hubert Witt
Ammann Verlag & Co, Zürich 2009
272 und 192 Seiten, 34,95 Euro