Lebenspralle Geschichte aus der Vergangenheit

12.02.2013
Ein historischer Roman, der ohne Schlachtengetümmel und Giftmorde oder Zauberer auskommt und den Leser dennoch nicht loslässt: Das ist "Adieu, Sir Merivel", eine amüsant-nachdenkliche Studie des Menschlichen mit einem Protagonisten, der seltsam vertraut wirkt.
Historische Romane leben von Schlachtengetümmel, politischen Ränkespielen, Giftmorden, Zauberern, Liebesdramen. Rose Tremain bietet nichts dergleichen und schlägt ihre Leser dennoch mit einer lebensprallen, farbenfrohen und ereignisreichen Geschichte aus der Vergangenheit in Bann, denn sie kann lebhaft erzählen.

Im Mittelpunkt ihres Romans, der 1683 beginnt und zwei Jahre später endet, steht der englische Arzt Robert Merivel, ein Freund König Charles II. Einige Leser werden ihm schon vor gut zehn Jahren in Rose Tremains Roman "Des Königs Narr" begegnet sein und daher manches bereits kennen, was jetzt im Buch noch mal kurz aufgegriffen wird.

Merivel schätzt Weib, Wein und gutes Essen sehr, kommt sich allerdings auf seinem Landgut mit nunmehr 57 Jahren recht verloren vor. Also beschließt er, nach Frankreich an den Hof Ludwigs XIV. zu gehen, um sich dort als Hofarzt zu bewerben.

In Versailles wird er wie ein armer Bettler behandelt, fristet seine Tage mit Warten auf eine Audienz. Dann begegnet er der Frau eines Offiziers der Schweizer Leibgarde des Königs, beginnt eine leidenschaftliche Affäre mit ihr, bis deren Mann davon erfährt und ihn unter Todesandrohungen verjagt. Das ist eher kurios, denn der Offizier hat seine Frau nie angerührt und ist homosexuell.

So kehrt unser armer Held widerstrebend nach England zurück. Zuhause erwartet ihn seine an Typhus erkrankte Tochter. Die Achtzehnjährige, Resultat einer Liaison mit einer psychisch gestörten Frau, ist das Einzige in seinem Leben, an dem er wirklich hängt. Er wacht über ihre Gesundung, um sich dann um ihre Jungfräulichkeit zu sorgen. Die sieht er insbesondere durch seinen Freund, den König bedroht, der allen hübschen Röcken hinterher steigt.

Rose Tremain nutzt nur wenige Rückblenden, um Sir Merivels Vergangenheit und damit sein aktuelles Verhalten zu erhellen. Dazu gehören Erinnerungen an eine ehemalige Geliebte, die an Krebs erkrankt ist, ebenso wie an einen alten Studienfreund, Arzt wie er selbst. Mit dem längst Verstorbenen führt er vor wichtigen Entscheidungen Gespräche, d.h. er glaubt dessen kritische Kommentare zu hören. Er ist gewissermaßen sein Gewissen.

Rose Tremain erzählt die Geschichte in Ich-Form. Wir sehen die Welt also durch die Augen des Medicus, eines Mannes, der nicht viel mehr weiß als seine Zeitgenossen, aber voller Wissensdrang steckt. Die Schriftstellerin spart nicht an deftigen Szenen und drastischen Sexbeschreibungen.

Ihr Robert liebt es zu spotten – eine Eigenschaft, die der König sehr schätzt. Er amüsiert uns z.B. mit sarkastischen Bemerkungen über den Versailler Hof, an dem man sich statt zu waschen stark parfümierte, absonderliche Kleidermoden pflegte, hohle Phrasen drosch.

Kleine und größere persönliche Katastrophen begleiten den Protagonisten, der wenig Heldenhaftes ausstrahlt, dafür sehr vertraut wirkt, so als wolle die Schriftstellerin sagen: die Verhältnisse mögen deutlich andere gewesen sein, die Gefühle der Protagonisten jedoch unterscheiden sich kaum von unsrigen. Eine amüsant-nachdenkliche Studie des Menschlichen.

Besprochen von Johannes Kaiser

Rose Tremain: Adieu, Sir Merivel
Aus dem Englischen von Christel Dormagen
Insel Verlag, Berlin 2013
446 Seiten, 19,95 Euro
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