Leben zwischen Angst und Hoffnung

Illegale Einwanderer in den USA

Aktivisten, die sich für illegale Einwanderer einsetzen, demonstrieren vor dem Supreme Court in Washington, D.C.
Aktivisten, die sich für illegale Einwanderer einsetzen, demonstrieren vor dem Supreme Court in Washington, D.C. © picture alliance / dpa
Von Martina Buttler · 07.06.2016
Wenn sie morgens in die Schule gehen, wissen Zehntausende junge Latinos nicht, ob sie nachmittags Mutter und Vater wiedersehen. Denn ihre Eltern sind ohne Papiere in den USA. Präsident Obama will viele aus der Illegalität holen. Für seine politischen Gegner ist das jedoch - ein Albtraum.
"Hallo, ich bin Kimberley. Ich komme aus Mexiko. Ich war vier Jahre alt, als meine Mutter mit mir über die Grenze gekommen ist. Sie wollte, dass ich hier zur Schule gehe. Da wo wir herkommen, bringen sie viele Menschen um."
"Mein Name ist Diana Pliego. Ich bin aus Mexiko eingewandert, als ich drei Jahre alt war. Meine Mutter war schwanger und mein Vater hatte nicht genug Geld, um das Krankenhaus zu bezahlen. Er hat sich entschieden, in die USA zu gehen, weil Leute erzählt hatten, dass es hier Jobs gibt. Das sollte nur vorübergehend sein, bis es in Mexiko wieder bergauf geht. Ging es aber nicht. Deshalb haben meine Eltern später entschieden, dass meine Mutter mit uns drei Kindern hinterherkommt. Meine Mutter ist mit meinem älteren Bruder, der fünf Jahre war, mit mir, ich war drei, und mit meinem kleinen Bruder, der sieben Monate alt war in die USA gekommen."

Ein Leben im Schatten, ein Leben in Angst

"Mein Name ist Catia. Ich bin mit 17 aus El Salvador in die USA gekommen. Ich bin hierhergekommen, weil meine Eltern und der größte Teil meiner Familie hier waren. Meine Eltern sind in die USA gegangen als ich neun Jahre alt war, und ich habe mit meiner Oma gelebt. Das ging dann nicht mehr, und ich war ganz allein. Ich hatte keine Wahl."
"Mein Name ist Kris Kobach. Ich bin der Innenminister von Kansas. Mein Hauptziel ist es, dass die Rechtsstaatlichkeit wiederhergestellt wird. Das heißt, dass unsere Gesetze effektiv und aggressiv umgesetzt, energisch umgesetzt werden. Menschen sollen legal in die USA kommen können, aber es sollte sehr schwer sein, illegal hier reinzukommen. Das ist mein Ziel."
Hunderte demonstrieren vor dem Weißen Haus am 21. November vor zwei Jahren. Fröhlich, ausgelassen rufen sie Barack Obama aus ganzem Herzen zu: Dankbarkeit. Denn Barack Obama hatte am Tag vorher Geschichte geschrieben. Er hat eine sogenannte Executive Action erlassen, eine Anordnung des Präsidenten.

Fünf Millionen Einwanderer sollen Papiere bekommen

"Wir bieten folgenden Deal an: Wenn du länger als fünf Jahre in den USA bist, Kinder hast, die Amerikaner sind oder eine Aufenthaltserlaubnis haben, wenn du dich registrierst, einen Background-Check bestehst und du bereit bist, deinen Anteil an Steuern zu zahlen, kannst du dich bewerben, legal in diesem Land zu bleiben, ohne Angst abgeschoben zu werden. Du kannst aus dem Schatten treten und deine Situation legalisieren. Das ist der Deal. Alles, was wir sagen: Wir werden dich nicht abschieben."
Rund fünf Millionen Einwanderern ohne Papieren soll diese Entscheidung den Weg in die Legalität eröffnen; Menschen wie den Eltern von Diana Pliego. Die schlanke 21-Jährige mit den langen, welligen, schwarzen Haaren kennt das Leben in Angst: ein Leben im Schatten, als Schatten. Sie hat es lange gelebt. Sie hat es gelebt, ihre Brüder haben es gelebt, ihre Eltern leben es immer noch.
"Weil ich schon als kleines Kind Bescheid wusste, wurde es einfach so normal und Teil meines Lebens. Ich habe nicht darüber nachgedacht. Es war wie eine zweite Haut. Wenn meine Eltern gesagt haben: Wir können da nicht hin, in der Gegend gibt es zu viele Polizisten. Das war normal für mich. Wenn sie Polizisten irgendwo gesehen haben, haben sie ihre Erledigungen halt später gemacht. Ich habe nicht gedacht, dass das irgendwie unnormal ist."
Seit drei Jahren haben sie und zwei ihrer Brüder eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Ihr jüngster Bruder ist in den USA geboren, er ist Amerikaner; ihre Eltern immer noch illegal in den USA. Ihre Familie hält sich immer geradeso über Wasser. Ihnen wird immer wieder mal der Strom abgeschaltet, weil sie die Rechnung nicht bezahlen konnten.
"Ich erinnere mich, dass ich öfter Hunger hatte, und ich wusste, dass nichts zu essen im Haus war. Immer wieder bin ich zum Kühlschrank gegangen, habe reingeschaut, als ob durch ein Wunder das nächste Mal mehr drin wäre. Und manchmal kamen meine Eltern nach Hause mit etwas Milch und Brot. Und wir waren glücklich. Das war alles, was wir wollten. Und es gab Tage, da haben sie nichts mitgebracht. Dann sind wir hungrig ins Bett gegangen. Das war normal für uns. Wenn ich jetzt drüber nachdenke, merke ich: Nein, das war nicht normal. Die meisten Menschen gehen nicht hungrig ins Bett."

Kein Job, kein Stipendium, kein Führerschein

In der High-School ist sie den Fragen ihrer Freunde immer ausgewichen, hat Ausreden parat. Frage: Warum arbeitest Du nicht? Antwort: die Schule ist mein Job. Frage: Warum machst du keinen Führerschein? Antwort: Ich habe kein Geld für ein Auto, warum soll ich also einen machen? Frage: Auf welches College wirst du gehen? Antwort: Ich gucke mich gerade noch um. Denn klar war: Einen Job bekommt sie nicht ohne Papiere, einen Führerschein auch nicht - und Colleges würden ihr keine Stipendien geben. Diana war eine Einser-Schülerin und je näher der Highschool-Abschluss kam, desto schwieriger wurde es mit den Ausreden, wenn es ums College ging. Ihre Vertrauenslehrerin hat sie irgendwann zur Rede gestellt hat:
"Ich hatte keine Ausreden mehr und da bin ich zusammengebrochen, habe geweint und ihr gesagt, dass ich keine Papiere habe, keine Social Security Nummer, und dass ich mich auf all die Stipendien, die sie mir vorgeschlagen hat, nicht bewerben könnte. Die längste Zeit hat niemand in der Schule etwas gewusst."
Bei ihr Zuhause wussten die Leute Bescheid, erzählt Catia. Und sie erzählt, wie mit Fingern auf sie gezeigt wurde. Zuhause - das war damals El Salvador, das Land mit der weltweit höchsten Mordrate. Als Catia neun Jahre alt war, sind ihre Eltern in die USA gegangen, um Geld nach Hause zu schicken, ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen.

"Es gab niemanden, der für uns gekämpft hat"

Catia lebte bei ihrer Oma, bis es Streit in der Familie gab und die Oma sich nicht mehr kümmern konnte. Tanten und Onkel haben sie und ihre Situation ausgenutzt, erzählt Catia und der Frau mit den schulterlangen dunklen Haaren steigen Tränen in die Augen, wenn sie sich daran erinnert:
"Mein Vater dachte, dass das die Leute sind, die uns helfen, wenn es nötig ist. Aber das haben sie nicht gemacht. Es war hart. Es gab niemanden, der für uns gekämpft hat, niemanden, der uns unterstützt hat. Es gab nur mich und meine Schwester. Das war schwer."
Ihre Eltern holen sie 2002 in die USA. Nach acht Jahren sieht Catia zum ersten Mal am Flughafen ihre Eltern wieder. Die meisten ihrer Familienmitglieder sind inzwischen entweder US-Bürger, haben eine Greencard oder eine zeitlich begrenzte Aufenthaltsgenehmigung.
Catia fällt durch viele Löcher. Für das eine Gesetz zu spät gekommen, für das andere zwei Monate zu alt. Die Angst auf der Straße angehalten, nach Papieren gefragt zu werden - sie begleitet jeden Illegalen in den USA, sobald er aus der Haustür geht.
Bei der 29-jährigen Kimberley spürt man, wie die Angst in jede Pore gekrochen ist. Die stämmige Frau mit den dunkelblonden langen Haaren traut sich nicht einen Job anzunehmen, aus Angst aufzufliegen, aus Angst, ausgewiesen zu werden, aus Angst, ihren zweijährigen Sohn und ihre achtjährige Tochter dann in den USA allein zurückzulassen. Denn wer sollte sich kümmern? Kimberley wohnt schließlich seit einem Jahr im Obdachlosenheim in Virginia, weil sie sich keine Wohnung leisten kann. Sie spricht leise, weint. Denn die Angst frisst sie auf.
"Es gibt viele Orte, an die ich nicht gehe: in Läden oder an die Bushaltestelle, weil ich Angst habe."

"Abschiebungen steigern: verdoppeln, verdreifachen"

Was ihr Angst macht, ist Kris Kobachs Hoffnung. Er will, dass der Staat härter durchgreift. Ihm ist Obamas Anordnung ein Dorn im Auge. Mit aller Macht versucht der Innenminister von Kansas, sie zu bekämpfen. Es ist der Kampf seines Lebens, der Kampf gegen illegale Einwanderer. Donald Trump unterstützt er - und dessen Worte sind Musik in Kobachs Ohren: Eine Mauer zu Mexiko, die findet Kobach nicht nur sinnvoll, sondern auch realistisch. Er hofft, dass Donald Trump der nächste US-Präsident wird, und will alles tun, um ihm ins Weiße Haus zu helfen:
"Das ideale Szenario wäre für mich, dass wir 2017 eine neue Regierung bekommen, die die Gesetze wieder energisch vollstreckt. Dass wir Arbeitsplätze durchsuchen, Festnahmen machen in Fabriken, auf Baustellen, wo Ausländer ohne Papiere arbeiten. Ich will eine Regierung, die Unternehmen verpflichtet, ein elektronisches System zu nutzen, das ihnen sagt, ob jemand legal oder illegal in den USA ist. Wir sollten generell die Zahl der Abschiebungen steigern: verdoppeln, verdreifachen. Daraufhin würden viele, die illegal hier sind, von selbst gehen."
Kris Kobach, der Mann mit dem strahlenden Lächeln und dem dunkelblonden Bürstenschnitt mit Seitenscheitel, sieht gute Gründe, gegen illegale Immigranten zu kämpfen. Der 50-Jährige wiederholt immer wieder, dass er will, dass die Gesetze eingehalten werden. Auch wirtschaftlich schaden die Einwanderer dem Land, ist sich Kobach sicher. Einwanderer ohne Papiere, die in den USA arbeiten – die müssen aufgespürt und rausgeworfen werden. Das fordert Kris Kobach. Und die Obama-Regierung ist da viel zu lasch, kritisiert der Innenminister aus Kansas.
"Das Durchgreifen an Arbeitsplätzen hat völlig aufgehört. Die Bush-Regierung, für die ich gearbeitet habe, hat die Ermittler in Fabriken geschickt. Sie haben die Türen geschlossen und Leute gefunden, die illegal da waren. Die sind abgeschoben worden, gegen den Arbeitgeber gab es manchmal ein Verfahren. Das gibt es unter Obama seit Jahren nicht mehr."
Was Kobach nicht sagt, ist, dass unter Präsident Barack Obama die Zahl der Abschiebungen drastisch gestiegen ist. 2001 unter George W. Bush wurden 189.000 Menschen abgeschoben. Unter Obama steht 2013 in den offiziellen Statistiken des Department of Homeland Security die Zahl 438.000: ein Rekordhoch.
Eigentlich sollte Catia inzwischen Teil dieser Statistik sein. Denn ein Jahr nachdem ihre Aufenthaltsgenehmigung ausgelaufen war, bekam sie eine Nachricht, die ihr Leben ins Schleudern brachte:
"Sie haben mir gesagt haben, dass sie mich abschieben werden. Das war 2012. Sie mussten mir ein Flugticket kaufen. Sie haben mir ein Datum gegeben, wann ich aus dem Land sein muss. Dann ist meine Tochter krank geworden und für mehrere Wochen ins Krankenhaus gekommen. Deshalb wurde das nicht durchgezogen. Ich wurde nicht abgeschoben."

Eltern gehen zurück, Kinder bleiben in den USA

Ein kurzes Aufatmen für die Frau mit dem breiten Gesicht und dem freundlichen Lächeln. Ihre Geschichte hätte sich wiederholt - auch ihre Kinder wären ohne ihre Mutter groß geworden. Der zweite Anlauf kommt 2014. Sie soll wieder abgeschoben werden. Wieder hatte Catia Glück, wieder wird die Entscheidung zurückgenommen. Die Abschiebung hängt wie ein Damoklesschwert über ihrem Leben. Die Angst vor ICE, wie die Einwanderungsbehörde kurz genannt wird, steckt allen illegalen Einwanderern ständig im Nacken, erzählt die 21-jährige Diana:
"Meine Eltern hatten mal Jobs, wo sie im Verkauf von Tür zu Tür gehen mussten. Und wenn sie dann nicht pünktlich zurück waren, diese Angst: Sind sie angehalten worden? Hat die Polizei sie geschnappt und sie können mich nicht erreichen?"
Dabei muss sie sich doch eigentlich keine Sorgen machen, wenn man Kris Kobachs Einschätzung folgt:
"In der Regel trennen die Behörden keine Familien, wenn Menschen abgeschoben werden. Was normalerweise passiert, ist, dass die Familien zusammenbleiben. Alle gehen zusammen zurück ins Herkunftsland der Eltern. Kinder mit zwei Staatsbürgerschaften gehen freiwillig mit. Sie werden nicht gezwungen. Die Familien treffen die Entscheidung, sich nicht zu trennen, wenn die Eltern zurückgehen müssen."
Das ist pure Theorie meint Anwalt Christopher Gunn. Er vertritt immer wieder Einwanderer. Er will, dass sie die Hoffnung nicht verlieren, ihren Platz in den USA zu finden.
"Sie nehmen ihre Kinder nicht mit zurück nach Mexiko, Guatemala oder woher auch immer sie kommen. Sie werden für ihre Kinder etwas organisieren, wo sie bleiben können. Keiner meiner Klienten hat je seine Kinder mitgenommen. Die Eltern sind zurückgegangen, ihre Kinder sind in den USA geblieben."
Und die Familien legen sich krumm, damit die Kinder ein besseres Leben haben. Diana wollte studieren. Als sie endlich ein College findet, dass Einwanderer ohne Papiere annimmt, muss sie irgendwie ein Stipendium bekommen, dass das Schulgeld von fast 30.000 Dollar pro Jahr übernimmt.

"Hey, wir haben es geschafft"

Sie arbeitet hart dafür und schafft es tatsächlich. Die ganze Familie will arbeiten, damit Miete und Lebensunterhalt für Diana zusammenkommen. Drei Tage bevor sie zum College gehen soll, macht die Firma ihrer Mutter pleite. Dianas Traum droht zu platzen. Mit Ach und Krach und viel Hilfe vom College wird eine Lösung gebastelt, die sie durch das erste Jahr bringt. In der Nacht vor dem ersten Unitag steht endlich fest: Diana kann studieren. Ihre Brüder geben ihr Blöcke, Stifte. Sie sammeln eine Grundausstattung zusammen und am nächsten Morgen zieht Diana im letzten Moment um. Sie weiß noch, wie das Gefühl war, als sie mit zwei Freundinnen begreift, was da gerade in ihrem Leben passiert.
"Wir sind ganz nach oben gegangen auf den Balkon des Cafés. Von dort konnte man über den ganzen Campus gucken und es war wunderschön. Wir hatten diesen Moment und haben gesagt: Hey, wir haben es geschafft. Wir sind hier."
Ihre Eltern, ihre Brüder, alle arbeiten, um das Geld für sie zusammenzukratzen. Ohne ihre Familie wäre Dianas Studium nicht möglich gewesen. Ende April hat Diana ihren Abschluss gemacht. Sie will später weiterstudieren, Jura. Diana will Anwältin werden, um anderen Menschen in ihrer Situation helfen zu können. Ihre Eltern leben immer noch im Schatten, ihr Leben im Geheimen - und damit lebt die Angst in Diana weiter.
Für Catia tickt die Uhr schon laut und vernehmlich. Im November wird wieder geprüft, wieder entschieden, ob Catia abgeschoben wird. Ob ihre Kinder in den USA ohne sie groß werden, sie wieder nach El Salvador muss. Außer der Supreme Court gibt Obama recht und schmettert die Klage ab. Und während im Supreme Court argumentiert wird, wird vor der Tür demonstriert, erzählen Illegale ihre Geschichte, singen sie zusammen.

"Vor die Tür zu gehen - ohne Angst"

Catia ist auch hier. Ihre Träume, ihre Zukunft, die Zukunft ihrer Familie und die Zukunft von Millionen anderen Familien liegen in der Hand von acht Richtern. Und Catia hofft, Diana hofft, Kimberley hofft.
"Ich würde gern eine Wohnung finden, einen Job suchen und mich um meine Kinder kümmern."
"Die Social Security Nummer gibt einem das Gefühl, dass man Rechte hat, nichts verstecken muss. Ich wünsche mir so sehr für meine Eltern, dass sie das haben und ihren Führerschein machen können."
"Ich hoffe, dass sich so vieles ändert. Ich bin schon so viele Jahre in diesem Land. Mein Leben ist hier. Stell dir mal vor, vor die Tür zu gehen - ohne Angst. Endlich würden mich die Einwanderungsbeamten in Ruhe lassen. Es würde sich viel ändern, wenn der Supreme Court für uns entscheidet."
Sie alle haben einen Traum, den Traum ihres Lebens: Aus dem Schatten zu kommen, keine Geheimnisse mehr, ankommen, dazugehören, endlich.
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