Landgang MV

28.02.2006
Angela Merkel outet sich als Fan des F.C. Hansa Rostock – und das nicht grundlos. Das weltweit gesungene Nordseewellen-Lied ist nur die frisierte Kopie des Originals aus Vorpommern. Es lebe die Zettelwirtschaft – jedenfalls im Richard-Wossidlo-Archiv. Und in Mecklenburg gehen die Uhren in der Tat anders, gelegentlich sogar um die Ecke.
Bundeskanzlerin Merkel hat sich als "bewundernder Anhänger" der BSG Empor Lauter geoutet. Die Bundeskanzlerin also "bewundert" den letzten Pokalsieger der DDR. Der spielt momentan zweitklassig. Die tapferen Mannen des BSG Empor Lauter, bekannter als F.C. Hansa Rostock, wissen, was ein Abstiegsgefühl ist. Und da überraschte es denn doch ein wenig, dass die Bundeskanzlerin den F.C. Hansa als "Leuchtturm und Markenzeichen für den Fußball in den neuen Bundesländern" bezeichnete.

Angela Merkel outet sich als Fan des F.C. Hansa Rostock
Von Almuth Knigge


Angela Merkel hat Ahnung vom Fußball. Weil sie weiß, dass die Frauen der Nationalmannschaft erfolgreicher sind als die Männer. Und weil Hansa Rostock ihr Lieblingsverein ist. Das gilt aber nicht richtig, weil sie auch sagt, dass sie Bayern München toll findet. Und beides zusammen geht ja eigentlich gar nicht.

Hansa Rostock ist auch der Lieblingsverein von Merkels Parteifreund Eckart Rehberg – und das gilt, weil Rehberg mal vier Jahre Präsident von Hansa war. Und das sogar, als sie noch in der Bundesliga gespielt haben.

Auch sein Parteifreund Peter Michael Diestel, immerhin letzter Innenminister der DDR, war mal Hansa-Präsident. Fußball und politische Karriere schließt sich im Nordosten nicht aus.

Und jetzt ist Rehberg seit September im Bundestag, der ersten Polit-Liga – nur Mecklenburg-Vorpommern ist jetzt bundesligafreie Zone, deshalb muss der Club auch unbedingt wieder aufsteigen – sagt er.

Einen klaren Heimvorteil hatte Rehberg in seinem Wahlkreis Rostock aber nicht. Auch sein Gegenkandidat hatte im Wahlkampf die Hansekogge mit auf dem Plakat. Dabei ist Christian Kleiminger gar keine politische Spielernatur, aber der Neffe des legendären Hansa-Spielers Heino Kleiminger.

Deshalb konnte der Wessi-Kleiminger in der Hansa-Stadt auch richtig punkten. Sagen die, die eine enge Verbindung zwischen politischen Erfolg und der richtigen Vereinszugehörigkeit sehen. Andere sagen was anderes.

Als der Abstieg aus dem Bundesliga-Oberhaus drohte, da hat der FC Hansa Plakate geklebt "Das Land braucht Hansa – Hansa braucht dich." Wenn es Hansa nicht gut geht, geht es auch Mecklenburg schlecht. Denn auch der Nordosten befindet sich in einem permanenten Abstiegskampf.

Frei nach dem Motto "Wir sind zwar das Armenhaus der Republik, aber im Fußball sind wir erstklassig" saß die erste Riege der Landespolitik bei wichtigen Spielen gerne auf der Tribüne. Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Harald Ringstorff hat den FC Hansa als einen Leuchtturm bezeichnet, der weit über die Landesgrenzen hinausstrahlt. Doch im Moment fehlt die Glühbirne und Hansa ist nur bedingt als Wahlkampfhelfer zu gebrauchen.

Denn ein Absteiger ist ein Absteiger bleibt ein Absteiger - da ist eine allzu feste Umarmung von Politik und Sport, vor allem im Landtagswahlkampf, nicht angebracht.

Und auch vergebene Liebesmüh. Der Stimmenfang im Fußballstadion funktioniert nicht recht, denn als der Verein letztens seinen 40. Geburtstag gefeiert hat und der Ministerpräsident auf der Stadionanzeige als Gratulant angekündigt wurde, da war sein Name … falsch geschrieben.

Das Nordseewellen-Lied
Von CS Rehfeld


Als Nordseewellen-Lied macht es die Runde. Oder gar als "Friesen-Lied". Aber: das Detail klärt uns den Irrtum schnell auf. In der Kopie "bleuhn geele Blöme", im Original aber "bleucht de gäle Ginster".

Auf der ganzen Welt wird es gesungen – meist als Kopie. Auch in Afrika. Das Original hat es nicht ganz so weit gebracht und heißt schlicht "Mine Heimat". Auch als Ostwellen-Lied handelsüblich bekannt. Und wir stehen nun am Ostsee-Strand; dort, wo sich die Halbinsel Fischland-Darß-Zingst im Wasser einbuddelt hat. Also auf vorpommerschem Boden, denn dort beginnt und endet unsere Geschichte.

Hier ist es zwar nicht entstanden. Aber die Gegend hier besingt es. Mine Heimat. Und irgendwie ist es doch hier entstanden. Hier, zwischen Barth und Zingst. Die Kurzfassung ist schnell erzählt:

Eine gebürtige Bartherin zieht nach Zingst, heiratet dann nach Berlin, wo sie Heimatweh hat und ein Gedicht schreibt, welches ein Flensburger Glasergeselle auf seiner Wanderschaft nach Zürich bringt, wo er es kurz vor seinem Tod einem gebürtigen Thüringer gibt, der es vertont und es 14 Tage später mit dem Zürcher Arbeiter-Männergesangverein am Grabe des Flensburgers welturaufführt.

Vielleicht erklärt die Odyssee schon einiges über seine Verbreitung heute. Aber es erzählt wenig über Martha Müller-Grählert.

Am 20.Dezember 1876 wird sie als Johanna Daatz in Barth geboren. Drei Jahre später heiratet ihre ledige Mutter den Zingster Müllermeister Friedrich Grählert. Der gibt der kleinen Johanna zum neuen Familiennamen auch einen neuen Vornamen: Martha.

Schon früh schreibt sie plattdeutsche Verse. Eine Heimatdichterin.

1907 erscheinen in Berlin die "Schelmenstücke" von Martha Müller-Grählert - mit dem Erstdruck des Gedichts "Mine Heimat". Dort heißt es noch in der letzten Strophe "Sehnsucht na dat lütte, kahle Inselland". Die heutige Fassung besingt die "Sehnsucht na dat lütte, stille Inselland". Die 1908 in der Zeitschrift für Humor und Kunst Meggendorfer Blätter veröffentlichte Fassung – sekundiert von einem großen Strandbild - macht das Lied einem größeren Leserkreis bekannt.

1910, in Zürich, wird der Text von Simon Krannig vertont. Er braucht eine halbe Stunde dafür. Das Lied schlägt Wellen, setzt sich an der deutschen Nordseeküste durch.

Mit einer zum Walzer zersungenen Melodie wird es an der Nordseeküste zum Heimathit. Auf den Ostfriesischen Inseln fasst es mit den Nordseewellen Fuß.
Der Soltauer Verleger Fischer-Friesenhausen macht dann als erster das große Geld damit. Er lässt Lied-Varianten auf Postkarten drucken, Noten für Akkordeon, Klavier und Orchester.

Martha Müller-Grählert weiß lange nichts davon. Die Dichterin geht leer aus. Erst 1936 erhalten sie und Krannig die Urheberrechte zugesprochen. Nach langen Jahren des Prozessierens und zu spät für Müller-Grählert. Die Ehe ist vor Jahren zerbrochen, sie lebt schon lange in wirtschaftlicher Not. Leseabende und Vortragsreisen bessern die Lage nicht wesentlich.

Einsam, arm und fast völlig erblindet stirbt sie am 19. November 1939. Auf dem Grabkreuz in Zingst steht der Vers: "Hier is mine Heimat / hier bün ick to Hus."

Martha Müller-Grählert. In ein Buch hatte sie die Widmung geschrieben:
"Ein kleiner Sperling bin ich nur,
meine Kunst ist sehr begrenzt –
doch es muss auch Sperlinge geben."


Es lebe die Zettelwirtschaft
Von Alexa Hennings


Eine riesige Zettelwirtschaft hat Richard Wossidlo hinterlassen. Das gleichnamige Archiv in Rostock hat alle Hände voll zu tun, um den einmaligen Nachlass zu sichten und zu sichern. Denn: Wossidlo hinterließ einen Schatz, was Sprache und Brauchtum in Mecklenburg betrifft. Der Volkskundler notierte auf winzigen Zetteln in Sütterlin-Schrift alles, was ihm die Leute erzählten. Und sie erzählten ihm viel, denn Wossidlo wird als warmherzig beschrieben, der die Sprache der Leute beherrschte. Die Zettelwirtschaft nun zu retten, ist ein mühseliges Unterfangen.

Wossidlo: "Ich hörte mal, wie ein alter Tagelöhner zu seinem Nachbarn sagte: Je möt weten, dat is ´n Naturforscher! Dei forscht allens ut de Natur rut, so als sich dat in de Jahrhunderten furtführt hebt. Un, je künnt mi glöwen, so´n Buk, was die Mann schriewen will, dat verföllt nich, dat bliwt!"

("Ich hörte mal, wie ein alter Tagelöhner zu seinem Nachbarn sagte: Sie müssen wissen, das ist ein Naturforscher! Der forscht alles aus der Natur raus, so wie sich das in den Jahrhunderten fortgeführt hat. Und Sie können mir glauben, so ein Buch, das der Mann schreiben will, das verfällt nicht, das bleibt!")"

Der Tagelöhner, von dem Richard Wossidlo hier in einer Rundfunkaufnahme von 1936, berichtet, sollte recht behalten: Das Werk, das der Volkskundler quasi wie ein Naturforscher schuf, das verfiel nicht, das blieb.

Zwei Millionen Zettel, zigarettenschachtel– bis postkartengroß, stecken, fein säuberlich geordnet in winzigen Umschläglein, die man hier Konvolute nennt, in hunderten Karteikästen. Eine ganze Wand bis zur Zimmerdecke voller Kästen, auf denen geheimnisvolle Aufschriften stehen: "Wind, Wetter und Gestirne", "Hahn, Huhn und Ziege", "Spottreden" oder "Alpdrucksagen". Gesammelt vom von Richard Wossidlo, dem "Volksprofessor", wie ihn die Mecklenburger nannten. 60 Jahre lang bereiste der Warener Gymnasialprofessor, Altphilologe und Privatgelehrte jeden Ort in Mecklenburg und sprach mit den Menschen.

Schmitt: ""Und er hat es aufgeschrieben, auf seine kleinen Zettelchen, und er hat zum Glück diese Zettel aufgehoben. Und das ist hier alles noch da, das ist das Wunderbare."

Dr. Christian Schmitt, der Leiter des Rostocker Wossidlo-Archivs, kann in die Vollen greifen. 25. August 1928, Neustrelitz, steht mit lila Bleistift auf einem Zettel. Kasten: Sagen, Konvolut: Frevelsagen. Ein paar schnell hingeschriebene Stichwörter, ein paar kleiner, also später vielleicht nach dem Gespräch im Gasthof hingekringelte Ergänzungen, Dazu wiederum Verweise auf Flurnamen und Orte, auf plattdeutsche Ausdrücke und Namen. Jeder Zettel ist von Wossidlo – um es neudeutsch zu sagen – akribisch verlinkt worden.

Schmitt: "Hier in Deutschland gibt es keine Landschaft – und dafür verbürge ich mich – die so dicht erschlossen ist, und auch so methodisch raffiniert erschlossen ist. Dass er vor allem nicht nur bestimmte Gebiete sammelt, diese Verbindung, so konsequent eine Sprache zu erfassen, so ein Mecklenburgisches Wörterbuch auf den Weg zu bringen und auf der anderen Seite so systematisch eine Volkskunde aufzubauen und auch noch eine Museumslandschaft, und dass sich daraus dann auch noch eine Forschungstradition entwickelt hat – das gibt es glaube ich nur in Mecklenburg."

Wossidlos Werk wurde zu DDR-Zeiten unter der Obhut der Akademie der Wissenschaften gehütet und von neuen Forschergenerationen weiter entwickelt: So entstand das Mecklenburgische Wörterbuch, das erst vor 15 Jahren abgeschlossen wurde. Doch mittlerweile, nach 60 Jahren Lagerung, sind viele Zettel in Gefahr – Wossidlo beschrieb auch die Rückseiten von alten Rechnungen, Schulheften oder Wahlzetteln.

Schmitt: "Das eigentliche Problem ist, dass viele Papiersorten einfach nicht geeignet sind für die Form der Aufzeichnung, weil das Papier holzschliffhaltig ist, säurehaltig ist und sich wirklich auflöst."

Rettungsgesuche, Bittbriefe und Projektanträge führten wenigstens schon einmal zu mehreren ABM-Stellen für das Archiv, das nur eine feste Stelle für den Leiter und eine für eine Halbtags-Sekretärin hat. Des Plattdeutschen Kundige Rostocker sitzen nun schon vier Jahre lang über den Wossidloschen Zettelkästen, und bringen das, was über sechs Jahrzehnte in Unordnung geraten war, wieder in die Reihe. Viele von ihnen kommen noch nach ihrer ABM-Zeit und machen ehrenamtlich weiter.


In Mecklenburg gehen die Uhren anders
Von Karl Lotz


Irgendwie hat er den bekannten Spruch "in Mecklenburg gehen die Uhren anders" wörtlich genommen, sehr wörtlich sogar. Bei der ersten Uhr, die er baute, ging das Pendel um die Ecke. Genau, um die Ecke, bei seiner zweiten Uhr bewegte sich das Zifferblatt, dann folgte die dritte Uhr - nun mit einem eckigen Zifferblatt, bei der der Zeiger mal länger und mal kürzer wird. Wie gesagt: In Mecklenburg gehen die Uhren anders und dort lebt Helmut Schmidt. Nicht der andere, der wohnt in Hamburg. Unser Helmut Schmidt werkelt in Leppin, einem Dorf bei Parchim.

Frühling in Mecklenburg. Das Schmelzwasser dringt durch den aufgeweichten Ackerboden und spült den Matsch auf die Landstraße. Eine alte Frau müht sich auf ihrem Fahrrad hügelauf. Oben angekommen, verschwindet sie im Nebel. Plötzlich springt eine Uhr, die um die Ecke geht, ins Auge. Surrealismus in Mecklenburg.

(Reporter: Wissen Sie, woran mich das erinnert? An Salvatore Dali.)
Helmut Schmidt: "Kuriose Uhren, verrückte Uhren ... Ja, ja, das war auch ein Uhrenverrückter. Ich wollte immer Uhren bauen, das war mein Ziel, die es noch nicht gibt. Ja, nun bin ich bei der größten Herausforderung: eine Uhr mit halben Zahnrädern. Und das soll, wenn es mal klappen sollte, die größte Drehpendeluhr der Welt werden."

Woran liegt es, dass solche Ideen gerade in Mecklenburg sprießen? Heinrich Schliemann hatte sich vorgenommen Troja zu entdecken. Das war genauso eine Idee.

(Reporter: Sind sie ein Künstler?)
Helmut Schmidt: "Nein. Nein. Nein, bin ich nicht. Ich bin ein Bastler. Künstler? Künstler? Überlebenskünstler bin ich."

Das Überleben in der DDR hat Helmut Schmidt schon trainiert. Da es keine Ersatzteile gab, hat er Ende der achtziger Jahre eine mechanische Werkstatt aufgebaut und sich so auf der Ebene des Tauschhandels über Wasser gehalten.

Helmut Schmidt: "Es wäre schön, wenn ich so einen Nachfolger hätte, der sich dafür interessiert, aber in der heutigen Zeit gibt es soviel Arbeitslose. Aber es schafft man nicht, den Menschen hinter dem Ofen vorzulocken und sagen: Du, hast du nicht ein bisschen Lust, deine Fähigkeiten zu erweitern oder was zuzulernen? Leider. "

Und man könnte was von ihm lernen, denn er hat die besondere Gabe mit Gegensätzen umzugehen. Alles bringt er gemeinsam zum Schwingen und Klingen. Vielleicht ist er doch ein Künstler?

Helmut Schmidt: "Ich hab Mechaniker gelernt. Beim Privatkrauter richtig von der Pike auf an. Und mein ganzes Leben habe ich mit Metall zu tun gehabt. Das muss gestreichelt werden das Metall. Das muss gut bearbeitet werden. Wenn man jetzt Flacheisen nimmt und kloppt wie verrückt oder wahllos darauf herum, dann wird die Struktur verändert und dann kriegt man nicht, was man will. Das muss man sehen das Material, das Metall."

(Reporter: Haben Uhren auch eine Seele ?)
Helmut Schmidt: "Ja. Doch. Ich denk mal, eine Uhr hat eine Seele. Also gute Uhren."

Und diese holt er vom Sperrmüll und es ist ihm eine große Befriedigung, wenn er sie wieder zum Gehen bringt. Doch manchmal muss er auch Niederlagen einstecken. Bei seiner größten Herausforderung, der Drehpendeluhr, ist diese ihm beim ersten Aufbau zusammengekracht. Die Zahnräder haben die zweieinhalb Tonnen nicht ausgehalten. Er muss sie noch mal stärker berechnen.

Er gibt nicht auf, aber die schweren Gewichte gehen auf die Knochen mit seinen 57 Jahren. Es wird seine letzte große Uhr werden. Danach hält er an, wie er sagt. Aber wenn die größte Drehpendeluhr der Welt in seinem Garten steht, hat er schon ein neues Projekt. Etwas kleiner.

Helmut Schmidt: "Das Uhrwerk ist fertig. Das Zifferblatt ist auch alles fertig. Das soll auch mal was Ausgefallenes werden. Da soll noch ein Fahrradfahrer rauf und der soll gegen die Zeit anstrampeln."