KulturRegion Stuttgart

Kunst auf Rädern

Eine S-Bahn steht am 15.04.2013 in der S-Bahnstation Flughafen/Messe am Flughafen in Stuttgart.
Eine S-Bahn steht in der Station Flughafen/Messe in Stuttgart. © picture-alliance / dpa / Thomas Niedermüller
Von Uschi Götz · 29.08.2014
Auf dem Weg zur Arbeit noch schnell eine Ausstellung anschauen? In der Stuttgarter S-Bahn ist das zurzeit mit ein bisschen Glück möglich. Drei zur Galerie umfunktionierte Wagen werden mal auf dieser, mal auf jener Strecke eingesetzt.
15:37 Uhr, die S 5 von Bietigheim in Richtung Stuttgart. In Baden-Württemberg sind Ferien, die S-Bahn ist nicht sehr voll. Eine Dame mittleren Alters setzt sich auf einen Platz und schaut auf das gegenüberliegende Fenster. Darauf ist eine Folie mit einem Kunstwerk geklebt, verdeckt ihren Blick nach draußen. Die Frau blickt auf ein Schaf mit schwarzen Füßen:
"Blau, blau… dann dieses Wollknäul von Schaf, für mich spiegelt es diese Gemütlichkeit, das Blaue, das Weite, also Fahrt, das ist für mich so charakteristisch."
"Ich fahre jeden Tag diese Strecke", sagt die Dame. Heute ist sie zum ersten Mal in der sogenannten mobilen Galerie gelandet. Sie findet das Projekt "richtig toll":
"Weil viele nicht in Galerien oder Museen gehen und das auch so wirklich mal mitkriegen, was gibt es an Kunst."
Mancher Zufallsbetrachter ist überfordert
Die mobile Galerie wird zufällig im Streckennetz der S-Bahnen eingesetzt, planen lässt sich der Besuch nicht. Initiiert wurde das Kunstprojekt von der KulturRegion Stuttgart. Auf rund 70 Meter S-Bahn-Wagen sind an den Fensterscheiben Werke von vier Künstlern zu sehen. Kunstwerke?
Energisch schüttelt ein etwa 50-jähriger Mann den Kopf. Für einen kurzen Moment blickt er auf das Fenster an seinem Platz, auf ungezählte Reihen mit mathematischen Koordinaten:
"Das ist für mich keine Kunst! Es ist Schmiererei."
Mittlerweile stehen eine etwa 55 Jahre alte Frau und ihr erwachsener Sohn vor der Kunst mit den unklaren Zahlen. Die beiden kommen aus Niedersachsen und sind mit ihrer ganzen Familie heute in der S-Bahn unterwegs.
Mutter: "Mit den Zahlen, weiß ich auch noch nicht, obwohl das irgendwie mit der Farbmischung vielleicht zu tun hat? Giftgrün, zinkgelb - wenn ich das so lese."
Sohn: "Wenn ich das lesen könnte."
Mutter: "Oder sind das die Farbmischungen?"
Sohn. "Das sind irgendwelche Farbmischungs… gedönse. Also eine Formel kann ich da nicht erkennen!"
Mutter: "Variable Parameter steht da drin."
Broschüren leisten Aufklärungsarbeit
Die Frau aus Niedersachsen hat sich eine Broschüre geholt, die in der Nähe der Kunstwerke liegen.
Die S5 erreicht den Stuttgarter Norden. Die Frau aus Niedersachsen hat die Welt um sich vergessen. Sie liest in der Broschüre, was sich der in Köln lebende Künstler Thomas Deyle bei seiner Zahlenreihe gedacht hat. Nämlich, dass die Zahlen verraten, in welchem Abstand er die Farben aneinander und übereinanderlegt.
Fast die Hälfte der Fahrgäste steigt aus. Nur noch wenige Minuten bis zur Endstation. Eine 16-Jährige steht jetzt vor einem Fenster, das die in Hannover arbeitende Künstlerin Julia Schmid gestaltet hat: verschiedene Pflanzen, scheinbar nach einem bestimmten System angeordnet. Auch sie will mehr wissen, liest in der Broschüre nach.
Eine Familie aus Rheinland-Pfalz, die zwischen Fenster und der jungen Frau in einer Vierergruppe Platz genommen hat, greift nun auch nach der Broschüre. In kurzer Zeit wird auch in der familiären Runde mit zwei erwachsenen Töchtern über das Bild am Fenster diskutiert:
"Nein, nein. Ich dachte vielleicht, es wäre Werbung" – "Nee, nee, als schöne Gartenbilder aufgefallen, ich bin hier die Pflanzenfachfrau daheim, deswegen denke ich schon, das ist aber eine tolle Knolle."
Ein heimatvertriebenes Schaf?
"Endstation. Bitte alles aussteigen!"
Die Familie aus Rheinland Pfalz steht auf und geht in Richtung Tür. In der Mitte der mobilen Galerie, dort wo die Schafe hängen, staut es sich. Einige Fahrgäste sind stehen geblieben. Darunter ein Studentenpaar, das händchenhaltend ein Schaf anschaut, das rennt oder hüpft. Plötzlich lässt die Studentin die Hand ihres Freundes los:
"Ein kleines Schaf, das rennt halt irgendwo hin, vielleicht flüchtet das vor irgendwas, vielleicht wird es aus der Heimat vertrieben?"
Die Fahrgäste, die hinter ihr stehen schweigen. Keiner bewegt sich vom Fleck. Alle starren das Schaf an. Überlegen wohl, ob es tatsächlich aus seiner Heimat vertrieben wird.
Ein Bild, das die Ausstellungsmacher sehr glücklich machen würde.