Kröger: Familie ist ein flexibles System

Moderation: Dieter Kassel · 10.10.2006
Der Familienforscher Friedebert Kröger sieht für die Familie eine "rosige Zukunft". Die Familie sei ein enorm flexibles System, das sich auf die Herausforderungen der Zeit gut einstellen könne, sonst hätte die Familie nicht überlebt, sagte Kröger im Deutschlandradio Kultur. Die Familie in der heutigen Form sei eine "funktionale Struktur", betonte er.
Kassel: Wann immer Gewalt an Schulen, Jugendkriminalität, Rechtsradikalismus oder auch vom Missbrauch von Alkohol und anderen Drogen durch Jugendliche in der Öffentlichkeit diskutiert werden, dann ist schnell auch die Rede vom Zerfall der Familie, und an den Problemen, mit denen viele rechnen aufgrund der zu erwartenden demografischen Entwicklung, ist natürlich auch die Tatsache schuld, dass die Familie in Deutschland ein Auslaufmodell ist. In diesem Zusammenhang erregt eine Rede, in der behauptet wird, das sei alles nicht wahr und der Familie ginge es besser als je zuvor, natürlich Aufsehen, und genau so eine Rede hat Friedeberg Kröger kürzlich auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für systemische Therapie gehalten. Friedeberg Kröger sitzt im Vorstand dieser Gesellschaft, ist Chefarzt der Klinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Schwäbisch-Hall und hat auch noch eine Professur an der Uniklinik in Heidelberg. Schönen guten Tag, Herr Kröger!

Kröger: Guten Tag, Herr Kassel!

Kassel: Worauf wollten Sie denn mit der Rede und wollen auch jetzt konkret hinaus, nur darauf, dass die Pessimisten, die die Familie so schlecht betrachten, übertreiben, oder meinen Sie wirklich das Gegenteil, dass es der Familie besser geht als je zuvor?

Kröger: Ich meine tatsächlich das Gegenteil, also ohne blauäugig zu sein, gibt es viele Aspekte, unter denen betrachtet es der Familie heute besser geht als zuvor.

Kassel: Welche denn zum Beispiel?

Kröger: Also nehmen wir einmal ein Beispiel, ein Datum. Es heißt ja immer, früher sei vieles besser gewesen, früher seien die Eltern viel mehr für ihre Kinder da gewesen als heute, früher hätte es nicht so viele Scheidungen zum Beispiel gegeben. Wir wissen aus den uns vorliegenden Daten, dass heute 64 Prozent der Kinder bei ihren Eltern leben bis zur Volljährigkeit, während es im 19. Jahrhundert nur 66 Prozent waren.

Kassel: Nun sagen natürlich Zahlen, ich könnte Ihnen jetzt einige Zahlen vom Statistischen Bundesamt um die Ohren hauen, die kennen Sie aber alle, und ich finde, das können wir uns auch sparen, Zahlen sagen doch immer recht wenig aus. Wenn man jetzt, man kann ja damit argumentieren, früher haben die Kinder ihre Eltern verloren, weil sie einfach früher gestorben sind, und es ist ja auch alles wahr, aber solche Zahlen sagen doch eigentlich nichts darüber hinaus, wie intakt die Familien sind?

Kröger: Natürlich gibt es Familien, die nicht intakt sind, aber wir sollten darüber auch nicht vergessen, dass sich in der Familie viele Ressourcen entwickelt haben, viele Möglichkeiten entwickelt haben der Intimität und der Beziehung, die es früher überhaupt gar nicht gegeben hat. Früher sind nicht nur die Eltern früher gestorben und die Familien haben sich als Patchwork-Familien wieder konstituiert, ein Grund dafür übrigens, warum in den vielen Märchen immer die Stiefmütter und die Stiefväter auftauchen. Früher ist es auch so gewesen, dass Kinder im jugendlichen Alter, im Kinderalter die Familien schon verlassen mussten, um ihren Berufen nachzugehen.

Kassel: Die moderne Arbeitswelt fordert aber doch auch heute, dass Eltern, und es ist doch heute üblicher als früher, dass beide, Vater und Mutter, arbeiten, dass Eltern eben acht Stunden am Tag arbeiten, im vorsichtigsten Fall dann wegen Anfahrt und Rückfahrt von und zur Arbeit vielleicht zehn Stunden nicht zu Hause sind, dass sie am Wochenende arbeiten und vieles andere, und Sie sagen trotzdem, der Familie geht es besser als früher, wo es üblicher war, dass die Frau nicht gearbeitet hat?

Kröger: Die Frauen haben ja früher auch gearbeitet, also die standen ja keineswegs mit offenen Armen und haben gewartet, dass die Kinder morgens aufwachen, sondern die waren ja ganz wesentlich für das wirtschaftliche Überleben und für das soziale Überleben in den Familien mit verantwortlich. Also die Vorstellung, auch das, denke ich, ist eine Idealisierung, dass man denkt, früher seien die Eltern ganztägig für die Kinder zur Verfügung gestanden oder die Mütter seien zur Verfügung gestanden, ich glaube, das ist ein Irrtum.

Kassel: Nun müssen ja innerhalb einer funktionierenden Familie Leute füreinander da sein, man muss sich aufeinander einstellen. Auf der anderen Seite leben wir doch in einer Gesellschaft, in der es auch sehr wichtig ist, sich individuell ausleben zu können. Widerspricht sich das nicht, gibt es nicht immer mehr Leute, die sagen, ja, schön und gemütlich ist eine Familie, aber ich müsste selber viel zu viel dafür aufgeben?

Kröger: Also die Vorstellung, dass das Singleleben die gewählte Form heute ist, die freiwillig gewählte Form des sozialen Lebens, davon können wir uns verabschieden. Also Singles sind nicht deswegen heute so häufig, weil das die Lebensform ist, die auf die Dauer attraktiv ist, sondern wir haben deswegen sehr viele Singles, weil die jungen Menschen heute später heiraten, und in die Statistiken der Singles gehen auch die Menschen mit ein, die bereits ihren Partner verloren haben, weil die Menschen heute sehr viel älter werden, als das vor 100 Jahren der Fall gewesen ist.

Kassel: Wenn das alles so ist, wie Sie es jetzt erklärt haben, woran liegt es dann, dass es so viele Menschen gibt, von Prominenten, die sich irgendwie berufen fühlen, sich dazu zu äußern, bis aber auch zu Fachleuten, die seit Monaten, seit Jahren, immer wieder erzählen, die Familie sei ein Auslaufmodell, das wäre alles nicht mehr so, wie es früher war?

Kröger: Also ich habe dazu eine Hypothese, mit der ich nicht ganz alleine stehe, dass mit der Dramatik, in der darüber gesprochen wird, dass die Familie zerfällt, wir anderes aus den Augen zu verlieren, zum Beispiel die Tatsache, dass heute die Generation heranwächst, die bei der derzeitigen demografischen Entwicklung 2050 für die ältere Generation wird da sein müssen, und die wesentliche Voraussetzung, die diese junge Generation braucht, ist die Bildung, und wir wissen aus der ganzen öffentlichen Diskussion, dass im Bereich der Bildung eine ganze Menge offen ist und eine ganze Menge getan werden muss, und ich denke, die Demografiedebatte, die heute so viel Raum einnimmt, lenkt davon etwas ab.

Kassel: Aber Sie haben jetzt selber die Demografiedebatte erwähnt. Das ist ja nun eine unglaubliche Angst, die es in weiten Teilen der Gesellschaft gibt. Ich habe manchmal den Eindruck, die Angst vor den Folgen der demografischen Entwicklung ist größer als die Angst vor Klimawandel, Naturkatastrophen, Terrorismus und Kriegen zusammen inzwischen. Ein paar Sachen kann man aber doch da nicht wegdiskutieren, dass die Geburtenrate in Deutschland so gering ist wie fast nirgendwo auf der Welt, das ist eine Tatsache. Wie passt denn das in Ihr Bild von der glücklichen Familie?

Kröger: Ich möchte mich nicht ganz falsch verstanden sehen. Natürlich ist die Familie nicht nur glücklich, und natürlich hat die Familie Herausforderungen und Aufgaben zu bewältigen, wie sie das in allen Jahrhunderten und allen Jahrzehnten zu tun hatte. Ich wende mich gegen die sehr kulturpessimistische Perspektive, die nur die Defizite in den Familien sieht und nicht auch die Ressourcen sieht, die jede Familie für sich aufgebaut hat.

Kassel: Wie ist es denn aber nun mit dieser großen Angst vor der demografischen Entwicklung, entwarnen Sie auch da? Ich meine, eins muss ja klar sein, in welchem Ausmaß das geschieht, ist teilweise nur Spekulation, aber grundsätzlich in Zukunft weniger Deutsche überhaupt, mehr Ältere als bisher, noch mehr, und weniger Jüngere, das wird ja wohl tatsächlich so kommen, das ist eine sehr realistische Annahme.

Kröger: Natürlich ist das eine realistische Annahme. Realistisch ist aber auch, dass die Gesellschaft Herausforderungen bewältigen kann. Denken Sie als Beispiel an einen Bauern, dem Sie Anfang des 20. Jahrhunderts gesagt hätten, 100 Jahre später wird sein Nachfolger nicht acht, sondern achtzig Menschen ernähren können. Also die Demografiedebatte ist natürlich substantiell und wichtig. Sie sollte aber nicht verdecken, dass die Vorhersagen, die Zahlen, die wir vorhersagen, nicht berücksichtigen dynamische Entwicklungen und nicht berücksichtigen können auch Strukturbrüche, die es in jeder Gesellschaft immer gibt und immer gegeben hat.

Kassel: Gucken wir doch mal in Bezug auf die Familie, darüber haben wir ja uns unterhalten, in die Zukunft. Es gibt ja im Moment wieder zwei Tendenzen, diese eine, die scheinbar ein bisschen zurück in die Vergangenheit führt, das berühmte Buch von Eva Hermann, aber es gibt noch andere Protagonisten einer Bewegung, die eher sagen, wir haben lernen müssen, all diese modernen Ideen funktionieren nicht, das klassische Modell, Frau kümmert sich um den Haushalt und die Kinder und Mann beschafft Geld, ist doch das beste, und es gibt natürlich die anderen, die über so was lästern und sagen, die Patchwork-Familie, wo alle für alles zuständig sind und auch nicht mehr klassisch nur Vater, Mutter und Kind in einer Wohnung wohnen, ist die Zukunft. Was ist denn für Sie wirklich die Zukunft?

Kröger: Die Zukunft ist schwer vorherzusagen. Karl Krauss hat schon gesagt, die Prognosen sind deswegen so schwer zu treffen, weil sie die Zukunft betreffen. Meine Idee ist für die Familie, dass die Familie ein enorm flexibles System ist, das sich auf die Herausforderungen der Zeit gut einstellen kann, sonst hätte die Familie nicht überlebt.

Die Familie in der heutigen Struktur, jedenfalls soweit wir sie in den industrialisierten Ländern kennen, ist eine funktionale Struktur, und sie hat auch gezeigt, dass sie neue Werte, neue gesellschaftliche Werte, sich auf diese Werte hat durchaus einstellen können. Insofern sehe ich für die Familie eine rosige Zukunft, ohne dass ich denke, dass da nicht erhebliche Anstrengungen auf die Familien zukommen, und dass sie auch die notwendige politische Unterstützung brauchen.

Da bin ich allerdings der Meinung, dass weniger jetzt ein Elterngeld einen Umbruch bringen wird, sondern Eltern brauchen, dass sie sich verlassen können auf eine verlässliche Unterstützung hinsichtlich der Kleinen und der ganz Kleinen, wenn beide Elternteile arbeiten gehen, und dass sie sich verlassen müssen, dass ihre Kinder gerüstet sind für die Zukunft durch eine gute Bildung.

Kassel: Her Kröger, ich danke Ihnen für das Gespräch.