Kommunismus von früh bis spät

04.10.2009
Archie Brown, bis 2005 Professor für Politische Wissenschaft an der Oxford University, hat seit über 45 Jahren die Welt des Kommunismus erforscht. Der aus Schottland stammende Historiker, der zu den Pionieren der vergleichenden Kommunismusforschung gehört, legt nun die erste umfassende Darstellung über die Geschichte des Weltkommunismus vor. Dabei schlägt er einen weiten historischen Bogen vom Aufkommen frühkommunistischer Ideen im 14. Jahrhundert bis zum Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums.
"Der Aufstieg des Kommunismus war, mehr noch als der des Faschismus, das wichtigste politische Phänomen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts", "

schreibt Brown. Er geht in seinem monumentalen Werk drei Fragen nach. Erstens will er erklären, wie und warum Kommunisten an die Macht gelangten, zweitens wie sie sich in einer Vielzahl von Ländern auf verschiedenen Kontinenten so lange an der Macht halten konnten und drittens befasst sich der Autor mit den Gründen für den Zerfall und schließlich den Kollaps kommunistischer Systeme.

Der erste Teil des Buches behandelt die Ursprünge und die Entwicklung des Kommunismus zu Lebzeiten von Karl Marx und Friedrich Engels sowie die Ausbreitung der kommunistischen Ideologie in Europa bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges. Der zweite Teil umfasst die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu Stalins Tod. Im dritten Teil beschreibt Brown die weltweite Expansion des Kommunismus bis Anfang der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Der vierte Teil widmet sich dem Aufkommen kommunistischer Abweichungen wie dem Eurokommunismus, der Herausbildung nicht kommunistischer Bürgerrechtsbewegungen in kommunistischen Staaten und endet mit Betrachtungen zum pragmatischen chinesischen Konsum-Kommunismus unserer Tage. Der fünfte und letzte Teil beleuchtet den Untergang des sowjetischen Imperiums und die Gründe für den Niedergang der kommunistischen Systeme in Europa.

" "Karl Marx hat behauptet, dass die kapitalistischen Systeme den Keim ihrer eigenen Zerstörung in sich trügen. Hat sich das nun nicht vielmehr für die kommunistischen Systeme bewahrheitet, wobei paradoxerweise ihre positiven Errungenschaften nicht weniger als ihre Versäumnisse und Ungerechtigkeiten zur wachsenden Desillusionierung beitrugen."

Ende der siebziger Jahre gab es 16 Länder, die sich unter kommunistischer Herrschaft befanden. Insgesamt 36 Länder wurden im 20. Jahrhundert zeitweise von kommunistischen Parteien regiert, ohne dass es gelang - wie zum Beispiel in Afghanistan - dort eine sozialistische Gesellschaftsordnung zu errichten. Derzeit stehen noch fünf Länder unter kommunistischer Herrschaft: China, Kuba, Laos, Nordkorea und Vietnam.

Browns Geschichte des Kommunismus basiert auf geschriebenen Quellen aller Art sowie auf Gesprächen, die er im Laufe von vierzig Jahren mit mehreren Hundert Beteiligten aus real existierenden kommunistischen Staaten geführt hat. Er befragte Funktionäre der herrschenden kommunistischen Parteien, Mitglieder diverser Zentralkomitees, Abweichler und Oppositionelle. Die Mehrheit seiner Gesprächspartner aber waren ganz normale Bürger, die sich weder als überzeugte Anhänger noch als entschiedene Gegner der kommunistischen Regime verstanden, unter deren Herrschaft sie sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren hatten. Ein Bestandteil dieses Arrangements konnte auch die Mitgliedschaft in einer kommunistischen Partei sein:

"Tatsache ist, dass in allen kommunistischen Ländern ehrgeizige Menschen überdurchschnittlich oft Parteimitglied wurden. Das ist einer der Gründe dafür, warum auch jetzt noch, knapp zwei Jahrzehnte nach 1989, in den meisten postkommunistischen Staaten ehemalige Parteimitglieder überdurchschnittlich häufig in führenden Positionen einschließlich höchster politischer Ämter zu finden sind."

Mit nur ein wenig mehr Demokratie aber waren die kommunistischen Systeme am Ende nicht mehr zu retten. Die Ursprünge ihres wirtschaftlichen und politischen Fiaskos sieht Brown in elementaren Defekt der von Lenin erdachten Systemkonstruktion.

"Das Fehlen jeglicher Institutionen, die die Rechenschaftspflicht der Regierung, die individuellen Freiheitsrechte und den politischen Pluralismus gewährleisten können, wurde zu einem gemeinsamen Merkmal aller kommunistischen Systeme."

Die unkontrollierbare Machtkonzentration in den Händen der herrschenden kommunistischen Parteien führte zur Übernahme der Entscheidungsgewalt durch Massenmörder, denen alle Mittel recht waren, um den "neuen kommunistischen Menschentyp" zu schaffen. Ähnlich wie ihre feindlichen Brüder, die Nationalsozialisten, opferten sie ganze Bevölkerungsgruppen der Wahnidee des "neuen Menschen". Alle, die nicht in das Schema der schönen neuen Welt passten, konnten von einem auf den anderen Tag zu Feinden erklärt werden, selbst wenn sie ihr ganzes Leben für die kommunistische Sache gekämpft und gelitten hatten. Nach neuesten Studien der russischen Memorial-Organisation verschwanden 1937/38 in der Sowjetunion 1,7 Millionen Menschen in Zuchthäusern und Arbeitslagern, 818 000 Personen wurden in diesen Jahren des stalinistischen Terrors hingerichtet, unzählige andere starben an Entbehrungen in den Gulags. Browns Fazit lautet:

"Als alternatives Konzept zur Organisation der menschlichen Gesellschaft war der Kommunismus ein entsetzlicher Fehlschlag. Am Ende behielten die Demokratien in der Auseinandersetzung der Ideen dadurch die Oberhand, dass sie als bessere Alternative zur kommunistischen Herrschaft präsent waren. Größere Toleranz, freie Wahlen, Rechenschaftspflicht der Regierung, Respekt für die Menschenrechte sowie ein deutlich höherer Lebensstandard machten in den kommunistischen Staaten nicht nur auf jene Minderheit der Bürger Eindruck, die Gelegenheit hatten, in den Westen zu reisen, sondern wirkten auch sich auch auf das Denken geistig offener kommunistischer Funktionäre aus. Von großer Bedeutung war, dass Politiker, die bereits institutionelle Macht besaßen, ihre Einstellung änderten."

Mit seiner Studie über Aufstieg und Fall des Kommunismus gelingt Archie Brown die erste große Zusammenschau des gescheiterten Versuchs der sozialistischen Weltrevolution. Der von Lenin ausgerufene Weltbürgerkrieg ist beendet und der 1917 angeschlagene hohe Ton verklungen. "Kommunistische Plattformen" werden vielleicht noch eine Weile im demokratischen Mediensystem herumspuken, um durch ihre schiere Gegenwart die Ödnis langweiliger Talkshows und einfallsloser Moderatoren zur kaschieren. Das von Marx und Engels beschworene Gespenst des Kommunismus aber ist aus Europa verschwunden. Man kann nur hoffen, dass dies bald auch in China und den vier übrig gebliebenen kommunistischen Staaten so sein wird. Denn erst dann kann der Fall des Kommunismus als abgeschlossen betrachtet werden.

Besprochen von Jochen Staadt