Kommentar zum Türkei-Referendum

Erdogans Abstieg hat begonnen

Präsident Erdogan spricht in ein Mikrofon und formt seine rechte Hand zu einer Faust
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan © ADEM ALTAN / AFP
Von Sabine Adler · 22.04.2017
Den Zenit der Macht hat der türkische Präsident Erdogan längst überschritten. Sein vermeintlicher Sieg beim Verfassungsreferendum ist eine Niederlage. Sein Abstieg vom Gipfel der Macht hat begonnen. Der kann sich allerdings hinziehen.
Wer seinen Sieg nur mit unlauteren Methoden erzielen kann, hat schon verloren. Zuerst an Redlichkeit und Glaubwürdigkeit, womit ein immenser Vertrauensverlust einhergeht. Recep Tayyip Erdogan hat den Bogen überspannt, weil er rücksichtslos sein Amt missbrauchte: für eine Propagandaschlacht nie erlebten Ausmaßes, um die Massen auf sein persönliches Karriereziel einzuschwören.
Anscheinend hat er geahnt, wie eng es werden würde. Bekam er bei der Parlamentswahl im November 2015 zusammen mit den rechtsextremen Nationalisten noch 61 Prozent der Stimmen, versetzten ihn die Prognosen vor dem Referendum offenbar in Panik. Nichts blieb mehr dem Zufall überlassen. Die Maschinerie wurde auf das Gleis gesetzt, der Apparat umgebaut.
Deutlich zu sehen an dem vorab auf Linie gebrachten Hohen Wahlrat. Rechtzeitig sind drei Mitglieder der Leitung, 221 Mitarbeiter und sämtliche Richter durch neue Personen ersetzen worden. Der Autokrat erwies sich als überaus vorausschauend. Der neue Wahlleiter erfüllte alle Erwartungen. Er ließ Wahlmanipulationen zu, bis dahin ein Novum in der Türkei. Er erklärte nicht abgestempelte Wahlzettel und Briefumschläge für gültig, obwohl das gegen geltendes Recht verstößt, wissend dass das bei einem so knappen Ergebnis den Ausschlag geben kann. Nur 1,5 Millionen Stimmen betrug der Unterschied. Bei anderthalb bis zweieinhalb Millionen unautorisierter Wahlzettel hätte das Nein-Lager vielleicht gewonnen. Statt jetzt die Zweifel auszuräumen, werden sie vom Tisch gewischt und die internationalen Wahlbeobachter beschimpft.

Erdogan drückt seine Pläne mit aller Macht durch

Dass Erdogan kein anderes als das von ihm gewünschte Ergebnis gelten lassen würde, war vor allem den einheimischen parteiunabhängigen Wahlbeobachtern klar. Fast 1600 Nichtregierungsorganisationen sind seit dem Putschversuch verboten worden, darunter etliche, die sich mit Wahlbeobachtung befasst haben. Ein offensichtlicher Kampf gegen die Zivilgesellschaft. Doch auch die wenigen, die noch nicht zerschlagen wurden, durften die Wahllokale bei der Stimmenauszählung nicht betreten, das war nur Parteivertretern erlaubt. Doch die Oppositionspolitiker hatten zu wenige Mitarbeiter, um jedes Wahllokal zu besetzen. Von der kurdischen HDP sitzen Tausende im Gefängnis, andere wurden eingeschüchtert, geschlagen, bedroht.
Anstatt darüber nachzudenken, warum ihm deutlich weniger Menschen folgen, anstatt die Wähler von seinem politischen Großprojekt zu überzeugen, drückte Erdogan seine Pläne mit aller Macht durch. Die fast völlig auf Linie gebrachten Medien folgten seinem Ablenkungsmanöver, dem Streit mit der EU, anstatt die immerhin 18 einschneidenden Veränderungen an der Verfassung im Detail zu erklären. Erdogan wollte nicht mehr Verständnis für die Pläne, sondern viele Stimmen für sich. Eine gründliche Diskussion hätte entlarvt, worin das wahre Ziel des Referendums besteht: in der Aufhebung der Gewaltenteilung. Diese Debatte nicht zu führen - auch das war vorausschauend.

Die Menschen wehren sich trotzdem

Das Wahlergebnis ist nicht problematisch, weil es knapp war, sondern weil massive Zweifel an seiner Echtheit bestehen. Statt nun wenigstens auf das Nein-Lager zuzugehen, polarisiert Erdogan weiter. Es entspricht seinem Politikverständnis, ein Lager um sich zu scharen, gerade groß genug, ihm die Macht zu sichern, und das vom Geist durchdrungen ist: Wir gegen den Rest der Welt. Schon dieses eigene Lager kann nur mit Druck zusammengehalten werden, denn wer Kritik anmeldet, ist sofort ein Feind. Und Gegner erfahren in diesem Schwarz-weiß-Mechanismus erst recht keine Schonung.
Es sollte ein Tabu sein, Wahlen, insbesondere ein Verfassungsreferendum, mitten im Ausnahmezustand abzuhalten, Erdogan hat es ignoriert, den Ausnahmezustand unmittelbar nach dem Wahltag verlängert – eine einzige Misstrauenserklärung dem türkischen Volk gegenüber. Die Menschen wehren sich trotzdem, sie protestieren ungeachtet drohender Verhaftung oder sie entziehen sich dem System, indem sie das Land verlassen oder in die innere Immigration gehen.
Erdogans Zenit ist überschritten, sein vermeintlicher Sieg eine Niederlage. Sein Abstieg vom Gipfel der Macht hat begonnen, allerdings kann der sich hinziehen.
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