Klein-Palermo am Ruppiner See

Von Claudia van Laak · 29.10.2008
Alles beginnt mit der größten Razzia in der Geschichte der beschaulichen Kleinstadt Neuruppin im Sommer 2004. Die XY-Bande fliegt auf: teure Karossen und illegales Glücksspiel, Geldwäsche, Drogenhandel und Bestechung. Der Anführer der Bande sitzt für die CDU in der Stadtversammlung. Er wird zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Doch es kehrt keine Ruhe ein.
Der Saal Nummer 1 des Landgerichts Neuruppin. Eine sachlich-kühle, moderne Einrichtung. Graue Tische, verkleidet mit hellem Holz. Die großen Fenster geben den Blick frei auf eine Wiese mit großen, alten Bäumen. Von den hellen Holzstühlen im Zuschauerbereich bleiben an diesem Tag viele unbesetzt. Der Prozess gegen den ehemaligen Geschäftsführer der Stadtwerke scheint nicht viele Neuruppiner zu interessieren, obwohl er hier, in der Geburtsstadt Theodor Fontanes, ein bekannter Mann ist. "Der kleine König" ist sein Spitzname.

"Dem Angeklagten wird Untreue und Vorteilsannahme in insgesamt 115 Fällen vorgeworfen. Er soll seine Position in den Stadtwerken und im Sportverein dazu genutzt haben, dem Sportverein aus der Kasse der Stadtwerke erhebliche Summen zuzuwenden. Diese Zahlungen soll er gegenüber den Aufsichtsgremien der Stadtwerke verschleiert haben."

Erläutert der Sprecher des Landgerichts Jan Esser. Etwa 900.000 Euro sollen auf Anweisung des Angeklagten an den Märkischen Sportverein Neuruppin - kurz MSV - geflossen sein, an den Gremien vorbei. Die Anklage dokumentiert jeden Cent: Schecks in Höhe von insgesamt 2015,56 Euro, Bargeld in Höhe von etwa 54.000 Euro, Heizöl für das Stadion des MSV, und so weiter, und so weiter. Die Stadtwerke sollen sogar die Rundfunkgebühren der Fußballspieler bezahlt haben, genau 2015,56 Euro.

"Im schlimmsten Fall droht dem Angeklagten eine Gesamtfreiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren, die ergibt sich aus dem Gesetz. Welche Strafe dann tatsächlich angemessen ist, darüber muss das Gericht befinden."

Dietmar Lenz heißt der Angeklagte. 53 Jahre alt, in Neuruppin geboren, Fußballfan,früher Vizepräsident des besagten MSV, von Beruf Heizungs- und Lüftungsingenieur. Ein Mann mit Schnauzbart und stattlichem Bauch, der vor Gericht schweigt, aber ab und zu hintersinnig lächelt, so als sei sein Freispruch bereits eine ausgemachte Sache. Lenz gibt einen Großteil der Vorwürfe zu, bewertet sie aber völlig anders als die Staatsanwaltschaft. Seine Verteidigerin Margarete Gräfin von Galen:

"Die Bewertung ist einfach die, dass Herr Lenz sagt, er hat das im Interesse der Stadtwerke getan. Das hat den Stadtwerken einen wirtschaftlichen Vorteil gebracht, einen Werbeeffekt gehabt. Es war im Interesse der Stadtwerke."

Das sieht die Staatsanwaltschaft ganz anders. In der Anklageschrift heißt es: Der damalige Chef der Stadtwerke habe gegen die Sparsamkeitsgrundsätze der öffentlichen Verwaltung verstoßen. Für die finanzielle Förderung habe es keinen Gegenwert gegeben, die Krise des Unternehmens habe sich durch die Zahlungen an den Sportverein verschärft und der Angeklagte habe nur sein persönliches Interesse verfolgt. Gerichtssprecher Jan Esser:

"Hier könnte von Bedeutung sein, dass in dem streitgegenständlichen Zeitraum sowohl die Stadtwerke Neuruppin als auch der MSV Neuruppin jeweils rote Zahlen geschrieben haben, also Verluste erwirtschaftet. In diesem Zusammenhang hat die Staatsanwaltschaft darauf hingewiesen, dass es für ein öffentliches Unternehmen nicht angemessen sein könnte, derartig hohe Ausgaben im Bereich des Sponsorings zu haben, wenn gleichzeitig Verluste erwirtschaftet werden."

Dietmar Lenz, der "kleine König von Neuruppin" lässt sich nicht von einem Wald- und Wiesenanwalt verteidigen. Margarete Gräfin von Galen ist Präsidentin der Berliner Rechtsanwaltskammer. Eine große, schlanke, elegant gekleidete Dame, die auf das Tragen schwerer Akten verzichtet. Während die beiden Staatsanwälte zu Beginn der Verhandlung gemeinsam eine schwere blaue Plastikkiste gefüllt mit Ordnern in den Gerichtssaal wuchten, legt Margarete Gräfin von Galen einfach ihren Laptop auf den Tisch.

Ihre Verteidigungsstrategie ist klar: "Während in anderen Städten die dortigen Stadtwerke Preise für ihr Engagement im Sport bekommen, landet man in Neuruppin dafür auf der Anklagebank", sagt sie. Außerdem belastet die Verteidigerin den Bürgermeister von Neuruppin Jens-Peter Golde. Er habe Bescheid gewusst und die letzte - vergebliche - Rettungsaktion der Stadtwerke für den Sportverein befürwortet.

"Man wird sehen müssen, wie sich Herr Golde in der Hauptverhandlung dazu verhält. Im Übrigen war das Sponsoring in allen Jahresabschlüssen ausgewiesen. Es war der Gesellschafterversammlung und dem Aufsichtsrat bekannt."

Der Prozess gegen den früheren Chef der Stadtwerke ist nur ein Fall von vielen in Neuruppin. Alles beginnt im Sommer 2004, mit der größten Razzia in der Geschichte der beschaulichen Kleinstadt am Ruppiner See. Die XY-Bande fliegt auf. Ihre Mitglieder fahren teure Karossen mit den Buchstaben XY im Nummernschild. Illegales Glücksspiel, Geldwäsche, Drogenhandel in großem Stil, Bestechung von Stadtverordneten, Polizisten und Mitarbeitern der Stadtverwaltung, so lautet die Anklage.

Der Anführer der Bande - er sitzt für die CDU in der Stadtverordnetenversammlung - wird später zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt, in dem bislang größten und aufwendigsten Strafprozess in der Geschichte des Landgerichts Neuruppin.

"Die wurden ja beneidet, jetzt im Nachhinein hört man ja viel. Beneidet wurden sie, dass sie so viel Geld hatten. Aber keiner hat daran gedacht, dass das durch Verbrechen gesammelt wurde, schlimm."

"In Kleinstädten ist das nun mal so: Einer kennt den anderen, einer arbeitet mit dem anderen zusammen, und dann gibt es bestimmte Sachen, die nicht mehr hinterfragt werden."

"Det haben alle gewusst. Und ich glaube nicht, dass ein Politiker das nicht gewusst hat. Das kann ich nicht glauben."

Mit der Verurteilung der XY-Bande kehrt keine Ruhe ein in Neuruppin. Im Gegenteil - es folgt Schlag auf Schlag: Anklage und Verurteilung des langjährigen PDS-Bürgermeisters und Landtagsabgeordneten Otto Theel wegen Vorteilsnahme im Amt - demnächst steht sein Sohn vor Gericht. Verurteilung des ehemaligen CDU-Fraktionsvorsitzenden und des Hotelinvestors, der den Volksvertreter bestochen hatte.

Die Stadt entlässt mehrere Verantwortliche: Neben dem Geschäftsführer der Stadtwerke auch den Chef des Tiefbauamtes und den Leiter des Kulturbetriebs - er soll schwarze Kassen geführt haben und steht deswegen demnächst vor Gericht.

"Schlimm ist es, man traut sich schon gar nicht zu sagen, woher man kommt. Neuruppin, Skandal Neuruppin - ist schon schlimm. Es kommt immer wieder was Neues dazu, da ist man erst mal sprachlos."

"Alles korrupt hier in Neuruppin. XY-Bande. Richtige Cliquenwirtschaft hier, können nicht genug kriegen. Der Kleene unten kommt vor Hunger nicht in den Schlaf, und die da oben, die würfeln sich alles gegenseitig zu."

"Normal ist es nicht. In Ordnung ist es nicht. Der Sparkassenchef ist der nächste. Wir wundern uns - ist natürlich schlimm, das Vertrauen ist natürlich bei vielen kaputt. Und da ist es auch schwer mit den Wahlen, das muss ich auch zugeben."

Wenige Tage vor dem Prozessauftakt gegen den ehemaligen Stadtwerkechef muss der Direktor der Sparkasse Ostprignitz-Ruppin seinen Hut nehmen. Er hat seinen 60. Geburtstag auf Kosten seiner Kunden gefeiert - 55.000 Euro teuer war die opulente Party, das macht 500 Euro pro Gast.

Ärger macht sich breit in Neuruppin über "die da oben". Ärger, aber auch Resignation. Viele winken ab, wollen nichts mehr davon hören. Von der Politik, von Parteien schon gar nicht. Keine guten Voraussetzungen für die Kommunalwahlen. Wählen gehen? Nein, sagt eine Mehrheit der Neuruppiner.

"Nee, kein Interesse mehr, gucken Sie mal in die Zeitung rein, wat sie für eine Scheiße machen."

"Wenn ich sehe, was in Neuruppin zum Beispiel passiert, der schöne Filz, da ist es auch nicht sinnvoll, irgendeine Partei zu wählen, weil dann der nächste Filz entsteht."

"Solange das Stadtparlament dazu benutzt wird, sich in der Familie Vorteile zu verschaffen, wat soll ich denn da wählen gehen. Das sage ich auch meinen Genossen."

Die Parteien und Wählervereinigungen bekommen am Tag der Kommunalwahlen eine Quittung. Zwei von drei Neuruppinern bleiben an diesem Sonntag zuhause. Die Wahlbeteiligung liegt bei genau 37,6 Prozent.

Was ist eigentlich los in Neuruppin? Warum ist die Geburtsstadt Theodor Fontanes zum Synonym für Korruption und Vetternwirtschaft in Brandenburg geworden? Wie konnte es soweit kommen? Jens Peter Golde wäre eigentlich der richtige Mann zur Beantwortung all dieser Fragen - der Bürgermeister der 32.000-Einwohner-Stadt.

Doch Golde redet derzeit nicht mit Journalisten. Der 53-jährige muss im Prozess gegen den früheren Stadtwerkechef als Zeuge aussagen. Außerdem wird er vom Angeklagten belastet. Der Bürgermeister schickt seinen Sprecher.

Treffen im Zentrum der Stadt, am Schulplatz. Neben dem Springbrunnen steht unter Ahornbäumen das Denkmal für Friedrich Wilhelm II. Der Preußenkönig lässt Neuruppin nach dem Stadtbrand 1787 komplett wieder aufbauen - die Altstadt gilt als Musterbeispiel für den frühklassizistischen preußischen Städtebau. Hier am Schulplatz startet auch die Karriere des späteren Drogenkönigs von Neuruppin Olaf Kamrath - was mit einer Würstchenbude beginnt, führt über Glücksspiel und Drogenhandel zu einer langjährigen Haftstrafe.

Ein Milchkaffee im Schröders, einem Café am Schulplatz. Stadtsprecher Andreas van Hooven erzählt, dass er vor drei Jahren mit großen Plänen aus Berlin nach Neuruppin gekommen ist. Er will mit gestalten, die Kleinstadt überregional bekannt machen. Mit positiven Schlagzeilen, versteht sich.

"Es ist natürlich bitter festzustellen, dass man in eine Stadt geht und wirklich das Ziel hat, Themen zu setzen, und man eigentlich nur noch mit Flickwerk und Krisenmanagement beschäftigt ist, das begleitet mich jetzt seit fast drei Jahren."

Dunkler Anzug, hellblaues offenes Hemd, randlose Brille. Der 37-jährige wirkt energisch und versucht nicht, die Probleme in der Stadt zu verschleiern. Zunächst hatte Andreas van Hooven sich überlegt, offensiv mit dem Thema Korruption umzugehen.

"Wir wollten in die Öffentlichkeit gehen und sagen: Wir haben das Problem erkannt, wir legen die Karten auf den Tisch", erzählt der Stadtsprecher. Aber dann habe er gemerkt, dass dies zum Bumerang geworden wäre - zu dicht ist der Filz in Neuruppin, zu tief der Sumpf. Unwägbar, was noch alles ans Tageslicht kommt.

"Das wäre ein Phyrrus-Sieg geworden, den man vielleicht für ein oder zwei Tage in der Presse erzielt hätte. Dass uns dann attestiert worden wäre, ja, ihr seid transparent, ihr legt die Karten auf den Tisch. Sie können die Karten gar nicht auf den Tisch legen, wenn sie gar nicht wissen, was im Stock ist, weil sie den Stock noch gar nicht aufgenommen haben."

Dass Neuruppin in Brandenburg zum Synonym für Korruption und Vetternwirtschaft geworden ist, führt Stadtsprecher van Hooven unter anderem auf das Wirken des langjährigen und mittlerweile wegen Vorteilsnahme verurteilten PDS-Bürgermeisters zurück.

Otto Theel war vor der Wende Sekretär für Wirtschaft in der SED-Kreisleitung. Er kennt die Stadt und ihre Unternehmen genau. In der Stadtverwaltung herrschte ein besonderes Verständnis von Wirtschaftsförderung. Die örtlichen Betriebe wurden offensichtlich bevorzugt, unabhängig von Leistung und Preis. Eine Kontrolle durch die Stadtverordnetenversammlung scheint es nicht gegeben zu haben. Wurden bei Aufträgen nur die Spezies bedient?

"Das ist überspitzt formuliert, seine Spezies bedienen, aber das ist keine Frage, dass wir hier über die Stränge geschlagen haben vor einigen Jahren und dass wir die Nachwirren jetzt zu erdulden haben, zu Recht."

Die Stadtverwaltung habe hart durchgegriffen, drei Verantwortliche entlassen und einen Korruptionsbeauftragten eingestellt, sagt Stadtsprecher van Hooven. Dass jetzt Schluss ist mit den Enthüllungen, daran glaubt der 37-jährige allerdings nicht.

"Es gibt hier einen Dominoeffekt. Es ist einmal in ganz großem Stile die Stadt durchforstet worden durch die Staatsanwaltschaft im Zuge der Ermittlungen um die XY-Bande. So dass dadurch festgestellt wurde: Da gibt es weitere Themenfelder, die dringend geklärt werden müssen, und dadurch ist eines nach dem anderen auf das Tableau gekommen."

Schuld ist die Staatsanwaltschaft, sagen einige in Neuruppin, die lieber heute als morgen die Anklagebehörde aus ihrer Stadt verbannen würden. Hat doch die Brandenburger Schwerpunktstaatsanwaltschaft Korruptionskriminalität ihren Sitz in der Fontanestadt - fünf Minuten Fußweg vom Rathaus entfernt. Die Wege sind kurz, das Nachtleben beschränkt sich auf wenige Kneipen und Hotelbars. So manch ein Staatsanwalt dürfte beim Bier Neues aus Klein-Palermo gehört und dann nachgeforscht haben.

"Da müssen wir jetzt durch, das dauert fünf, sechs, sieben Jahre, einige Jahre haben wir schon hinter uns gebracht. Und wir müssen da vorangehen mit gutem Beispiel, wir müssen selber knallhart durchgreifen."

Das würde man gerne vom Bürgermeister selber hören und nicht vom Sprecher der Stadt. Denn Jens-Peter Golde ist als gebürtiger Neuruppiner Teil des Beziehungsgeflechtes dieser Kleinstadt. Der angeklagte Stadtwerkechef Lenz und der jetzige Bürgermeister sind alte Freunde, sie gehören beide zur Wählergemeinschaft "Pro Ruppin". Und auch ein Blick auf die Mitgliederliste des Lions-Clubs ist erhellend.

Gründungspräsident ist Reinhard Sommerfeld - der CDU-Stadtverordnete, der sich von einem Hotelinvestor schmieren ließ. Gründungsmitglieder sind außerdem der angeklagte frühere Stadtwerkechef Lenz - er trägt im Gerichtsaal stolz das Lions-Club-Abzeichen - und der jetzige Bürgermeister. In der Eigenwerbung des Clubs heißt es: "Die Lions sind idealistisch gesinnte Menschen, die für Nächstenliebe und Gemeinsinn eintreten."

Zurück ins Landgericht Neuruppin. Der Prozess hat noch nicht begonnen. Der Angeklagte Dietmar Lenz - wie in den Tagen zuvor im tadellosen Anzug und mit einer blitzenden Uhr am Handgelenk - betritt gemeinsam mit seiner Tochter das Gerichtsgebäude.

Im Foyer sitzt ein älterer, sportlich gekleideter Herr in Jeans und roter Jacke - Jürgen Dechsling. Er will heute den Prozess mitverfolgen. Dechsling ist Mitglied der Grünen, Neu-Neuruppiner und kritischer Beobachter der Zustände in der Stadt. Die beiden Clubs in Neuruppin, in denen sich die örtlichen Eliten versammeln, sind ihm suspekt.

"Viele Sachen werden angeleiert bei den Rotariern, beim Lions-Club, bei einem Bier abends. Man hat da manchmal den Eindruck, dass da wirklich noch Kanäle sind, die der normale Mensch nicht erfährt, dass man sich da durchaus einige Sachen zuschiebt, und bevor das in der Öffentlichkeit ist, da sind die Weichen schon gestellt."

Einige Journalisten betreten das Gerichtsgebäude, darunter auch ein Kamerateam von Ruppin TV, dem privaten örtlichen Fernsehsender. Betreibergesellschaft ist die Ruppiner Medien GmbH, Gesellschafterin und Geschäftsführerin Stefanie Rose.

Gegen sie läuft ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft - sie soll den früheren Trainer des MSV pro forma bei ihrer PR-Agentur angestellt haben. Im Gegenzug soll ihr der angeklagte Stadtwerkechef zusätzliche PR-Aufträge versprochen haben. Stefanie Rose ist die Tochter von Uwe Rose, dem früheren Leiter des städtischen Kulturbetriebs, der sich demnächst wegen Steuerhinterziehung vor Gericht verantworten muss (Richtigstellung am 3. November 2008:
Die Staatsanwaltschaft Neuruppin hat im Fall Uwe Rose ihre Ermittlungen noch nicht abgeschlossen).

In Neuruppin hängt eben alles mit allem zusammen. Jürgen Dechsling meint:

"Es sind immer noch die alten Leute an der Regierung. Es sind hier sehr viele alte Strukturen, die noch laufen, also alte Neuruppiner, die in den Schlüsselpositionen der Stadt sitzen, immer noch, da hat sich also wenig geändert."

Den Filz hat Jürgen Dechsling am eigenen Leib zu spüren bekommen - bei dem Versuch, Autos an die Stadtverwaltung beziehungsweise deren Gesellschaften zu verkaufen.

"Da gibt es immer Ausschreibungen. Da müssen drei Angebote eingeholt werden. Das war immer klar, wer das kriegte, das war vorher besprochen. Ich konnte das pro forma abgeben, aber ich hatte keine Chance. Das war so. Und da hat man mir gesagt, da müsse ich mich nicht drüber wundern, das wird die Ausschreibung so gemacht."

Eine Hand wäscht die andere, so ist es eben in einer Kleinstadt, sagen viele in Neuruppin. Filz und Klüngel gäbe es in anderen Städten genauso. Das stimmt, meint Jürgen Dechsling, der aus Lübeck stammt, aber in Neuruppin profitiere nicht die Stadt von den guten Beziehungen zwischen Verwaltung und Wirtschaft, hier profitierten nur Einzelne.

"Hier gibt es ein ganz fürchterliches Gen in Neuruppin. Und zwar dass alle Leute, die in eine gewisse höhere Position kommen, meinen, plötzlich das Recht gepachtet zu haben, ihnen kann keiner, sie können sich über demokratische Spielregeln hinwegsetzen, und was sie machen, ist immer richtig."

Dietmar Lenz ist zwar noch nicht rechtskräftig verurteilt, aber dass er zu den Personen gehörte, die dachten, sie könnten kraft ihres Amtes schalten und walten wie sie wollten - das wird im Prozess schnell deutlich.

Am dritten Verhandlungstag ist der erste Zeuge geladen - der frühere Schatzmeister des Märkischen Sportvereins MSV. Er erzählt von dem Größenwahn, den der Vorstand des MSV packt, als der Verein in einem Pokalspiel gegen den FC Bayern antreten darf. Der Verein mietet kurzerhand das Berliner Olympiastadion für diese Begegnung - eine Wahnsinnsidee, sagt der Zeuge, und der Anfang vom Ende des MSV.

Der angeklagte Dietmar Lenz unternimmt einen letzten Rettungsversuch - er schlägt vor, die Stadtwerke sollten dem hochverschuldeten MSV das Stadiongebäude abkaufen. Dass das Stadion schon immer städtisches Eigentum ist und der Sportverein Pächter, das scheinen die Verantwortlichen vergessen zu haben.

Die Blase platzt, die Zahlungen werden gestoppt, Lenz muss seinen Hut nehmen, der MSV - damals mit über 1000 Mitgliedern größter Verein des Kreises Ostprignitz-Ruppin - muss Insolvenz anmelden. Die erste Herren-Fußballmannschaft steigt ab, Trainer und Spieler werden entlassen.

"Ein Größenwahn ist hier, der eigentlich den Gegebenheiten nicht angemessen ist, und den kann man hier sehen, es halten hier einige Hof."

Zurück zum Schulplatz, ins Café Schröders. Stadtsprecher Andreas van Hooven bestellt einen zweiten Milchkaffee. Dann erzählt er, Neuruppin habe sich um die Aufnahme bei "Transparency International" beworben. Er weiß, dass diese Nachricht für ungläubiges Staunen sorgt.

"Das mag dem Zuhörer im ersten Augenblick völlig widersinnig erscheinen. Wir wussten natürlich auch, dass die Chancen von Neuruppin da ganz schlecht stehen in der gegenwärtigen Situation. Und natürlich haben wir uns da eine Klatsche abgeholt."

Doch man will dranbleiben, hart gegen die Korruption in der Stadtverwaltung vorgehen. Ein neuer Verhaltenskatalog verbietet städtischen Mitarbeitern grundsätzlich die Annahme von Geschenken, selbst Kugelschreiber sind nicht erlaubt. Und wer zahlt jetzt den Milchkaffee?

"Sie zahlen meinen. Und ich zahle Ihren."