Klaus Reichert: Auf einmal waren sie alle "innere Emigranten"

Klaus Reichert und Helmut Böttiger im Gespräch mit Katrin Heise · 27.04.2009
Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung setzt sich in der Ausstellung "Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland" kritisch mit ihren Anfängen auseinander. So habe in der 1949 gegründeten Akademie eine undemokratische Kontinuität des deutschen Bürgertums fortgewirkt, so der Kurator Helmut Böttiger im Dialog mit Klaus Reichert.
Katrin Heise: Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung pflegt und fördert die deutsche Literatur und Sprache, hat sich vehement beispielsweise in die Debatte um die Rechtschreibreform eingemischt und vergibt unter anderem den renommierten Georg-Büchner-Preis. Vor zehn Jahren, zum 50. Jubiläum, wurde eine Chronik über das gesamte Wirken der Akademie erstellt. Jetzt, zum 60. Geburtstag, sollten die ersten Jahre, die literarischen Aufbruchsjahre der gerade gegründeten Bundesrepublik unter die Lupe genommen werden. Die gestern in Berlin eröffnete Ausstellung "Doppelleben" macht dies sehr anschaulich. Neben Aufbruch gab es aber auch Kontinuität, Kontinuität mit der Zeit des Nationalsozialismus, und das gerade auch in den Reihen der Akademie. Auch davon berichtet die Ausstellung, und darüber möchte ich mich unterhalten mit dem Präsidenten der Akademie Klaus Reichert und dem Autor und Kurator der Ausstellung Helmut Böttiger. Schönen guten Tag, meine Herren!

Klaus Reichert: Guten Tag!

Helmut Böttiger: Guten Tag!

Heise: Schön, dass Sie beide ins Studio gekommen sind! Wir beginnen mal mit der Ausstellung. Helmut Böttiger – Literatur der Nachkriegsjahre, da fällt einem ja gleich die Gruppe 47 ein, aber Sie sind natürlich darüber hinausgegangen. Was haben Sie sich angeschaut, um ein Gesamtbild zu bekommen?

Böttiger: Wir haben versucht, die Vielfalt des literarischen Lebens nach 1945 darzustellen und natürlich sind die zentralen bedeutenden Autoren, die heute noch zählen, im Mittelpunkt, also Gottfried Benn, Thomas Mann, Alfred Döblin, Berthold Brecht, und die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ist ein Teil der Institutionengeschichte, die wir in der Ausstellung auch behandeln. Die ersten Jahre der Deutschen Akademie, die ja heute unumstritten die nationale Institution ihrer Art ist, die sind so ein bisschen unbearbeitet geblieben, und das ist tatsächlich Neuland, das wir betreten haben. Und im Gesamtblick zeigt sich, dass man zwar die Gruppe 47 heute noch kennt, dass man die Aufbrüche damals kennt, man kennt Arno Schmidt, den frühen Heinrich Böll. Aber die tonangebenden Autoren, die wirklich bis Mitte der 50er-Jahre das Feld beherrscht haben, wie Rudolf Alexander Schröder – das war der große Dichter der damaligen Zeit, der als neuer Goethe behandelt wurde – oder Werner Bergengruen, die sind eigentlich mittlerweile vergessen, und diese ersten Jahre sind deswegen heute in Erinnerung zu rufen. Und in der Deutschen Akademie – wie überhaupt in den ersten Jahren der Bundesrepublik unter Konrad Adenauer – zeigt sich doch sehr stark eine Kontinuität der handelnden Personen, die auch im Nationalsozialismus eine Rolle spielen.

Heise: Das heißt, welcher Geist, würden Sie sagen, wehte da? Völkisch, darunter kann man es zusammenfassen? Undemokratisch?

Böttiger: Das Interessante ist, dass es nicht darum geht, ob es Nazis gewesen sind. Frank Thiess, einer der Hauptprotagonisten dieser damaligen Zeit, war tatsächlich kein Nazi, das lässt sich belegen, aber er gehört zu dem Teil des deutschen Bürgertums, das in den 20er-Jahren, in der Zeit der Weimarer Republik, schon antirepublikanisch eingestellt war, ein deutschnationales, völkisches, aristokratisch-preußisch-junkerhaftes Denken. Und diese Kontinuität von der Weimarer Republik über die Zeit des Nationalsozialismus bis in die frühe Adenauerzeit – das ist das Hauptaugenmerk dieser Ausstellung, und wenn man immer verkürzt sagt: "Der ist ja kein Nazi gewesen", dann ist das wirklich nicht das Entscheidende. Es geht um eine undemokratische Kontinuität im deutschen Bürgertum.

Heise: Eine Demokratie, die ja im Aufbau begriffen war und dann daher so ein bisschen kontakariert wurde, kann man sich vielleicht vorstellen. Herr Reichert, Ihnen als Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sagen die Namen und die Autoren Frank Thiess, Kasimir Edschmid natürlich etwas, mir zugegebenermaßen wenig. Welche Wichtigkeit hatten diese Literaturfunktionäre eigentlich damals?

Reichert: Zunächst einmal waren es Autoren, die man nach dem Krieg wieder gedruckt hat und gelesen hat. Wir haben in der Schule – ich bin Jahrgang 1938 – in der Schule Frank Thiess gelesen, wir haben Bergengruen gelesen, wir haben Schröder gelesen. Wir haben wenig erfahren darüber, dass diese Männer ja durchaus ihre Karriere auch, ob sie nun Nazis waren oder nicht, aber doch während der Zeit des Nationalsozialismus gemacht hatten, und es dauerte bis in die mittleren oder späten 50er-Jahre, bis man merkte: Das muss nicht die deutsche Literatur sein, die einen interessieren könnte. Es könnte Brecht zum Beispiel einen interessieren, es könnte einen Kafka interessieren. Die kamen aber bei uns in der Schule zum Beispiel nicht vor.

Heise: Das heißt, diese Autoren, diese Literaturfunktionäre ja auch, in der Akademie beispielsweise, hatten dann doch eine ziemlich große Rolle.

Reichert: Sie hatten eine sehr große Rolle und haben auch versucht, sozusagen Geschichte zu schreiben. Auf einmal waren sie alle in dem neu erfundenen Begriff "innere Emigranten". In irgendeinem Dokument wird sogar dieser durch und durch völkische Autor Hans Grimm auch als einer reklamiert, der in der inneren Emigration gewesen war. Und das sind Dinge, die begann man erst sehr, sehr langsam zu durchschauen. Große Gegenpositionen gab es eigentlich nicht. Herr Böttiger hat gerade die Gruppe 47 erwähnt. Im Nachhinein hat sie eine bedeutende Rolle gespielt, aber in den Jahren damals war sie sozusagen marginal. Es gab ganz viele Autoren, die man eben las, schon einige der genannten, es kommen noch ein paar dazu, aber das war eine Avantgarde, die man sehr argwöhnisch beobachtete. Und ein Autor, der sehr, sehr früh dabei war mit seinem Prosastück "Leviathan", Arno Schmidt, der war nun total am Rand. Der gehörte auch nicht zur Gruppe 47, und ein anderer, Wolfgang Koeppen, gehörte auch nicht dazu. Das sind von hinten her gesehen die wichtigen Namen, die aber damals keine Rolle spielten, auch nicht in der Formierung der Akademie, bei der sich dann noch solche Abrechnungen einstellten wie die gegen die Emigranten, die ja natürlich im gesicherten, ruhigen Kalifornien saßen unter Palmen, und auf der anderen Seite: Wir haben das alles durchlebt. Die Kontroverse um Thomas Mann spielt eine große Rolle, auch in der Geschichte der Akademie.

Heise: Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung setzt sich jetzt mit ihren Anfängen auseinander, im Radiofeuilleton zu Gast sind der Akademiepräsident Klaus Reichert und Helmut Böttiger, der Buch und Ausstellung zum 60. Jubiläum erarbeitet hat. Herr Böttger, jetzt wurde ja von Herrn Reichert schon einigermaßen dieses Spannungsverhältnis beschrieben. Wie haben Sie das in den Unterlagen, die ja das erste Mal veröffentlicht werden jetzt, wie haben Sie das, wie hat sich das für Sie dargestellt, dieses Spannungsverhältnis zwischen den jungen Aufstrebenden, die wir jetzt immer als die Repräsentanten der Zeit sehen, und denen, die damals aber am Ruder saßen?

Böttiger: Das wirklich Interessante ist, dass man aus heutiger Sicht nur noch die Namen kennt, die geblieben sind, also die Gruppe 47, und die Gruppe 47 wird ja allgemein in den letzten Jahren sehr kritisch behandelt. Wenn man das im Kontext der damaligen Zeit sieht, was da 1947 wirklich stattfand, dann wird klar, welchen Wust an deutscher, völkischer Ideologie die jungen Autoren erst mal beiseiteräumen mussten oder sich überhaupt damit auseinandersetzen mussten, dann wird auch die Leistung dieser Außenseiter erst richtig deutlich. Das wirklich Verblüffende ist, obwohl man das allgemein weiß, welche Namen die große Rolle spielten und was sie sagten. Es gibt eindeutig antisemitische Äußerungen von Gründungsmitgliedern der Akademie, es gibt Töne, die man heute gar nicht mehr glauben kann, vom Präsidium der Akademie, und der erste Präsident, Rudolf Pechel, dieser Deutschen Akademie, der war sogar im KZ gesessen, was ihn aber nicht daran hinderte, tatsächlich eine deutschnationale, völkische Ideologie zu vertreten. Er fand die Nazis irgendwie zu pöbelhaft, zu kleinbürgerlich, er stand darüber. Und das ist so die Grundhaltung dieser ersten Jahre, dass die 50- bis 70-Jährigen eine Kontinuität darstellten, die man heute ein bisschen aus dem Blickwinkel verloren hat, weil man sich eher kritisch mit den heute berühmten Namen der Gruppe 47 auseinandersetzt.

Heise: Herr Reichert, Sie als Präsident der Akademie, was geht Ihnen da durch den Kopf, wenn Sie das hören zu den Anfängen? Das wird Ihnen wahrscheinlich auch nicht neu sein, aber warum befasst man sich öffentlich erst jetzt damit?

Reichert: Das weiß ich eigentlich auch nicht, warum man sich erst jetzt damit beschäftigt. Sie haben ja auch auf das 50-jährige Jubiläum hingewiesen, …

Heise: Da war ja eine Gelegenheit.

Reichert: … da hat man sich eben beschäftigt, ja, mit den Mitgliedern, sozusagen sine ira et studio, der hat sich mit dem Text vorgestellt, der mit jenem, der mit jenem. Das war keine politische Veranstaltung. Das hängt ein bisschen, wenn ich das so sagen darf, auch mit dem Interesse von Präsidenten zusammen, ob die sich für in Anführungszeichen eine Aufarbeitung der Vergangenheit interessieren, ob sie sich für die eigenen Wurzeln interessieren oder eben auch nicht. Das hat sich jetzt hat so ergeben, zumal jetzt doch in ganz anderem Maße als noch vor zehn Jahren die Archive zugänglich sind, auch die beiden Berliner Archive, die ja zusammengeführt sind, die ein Archiv sind, Ostakademie, Westakademie. Da ist sehr viel Material drin, was man bis jetzt so nicht zugänglich hatte. Und im Übrigen hat Herr Böttiger als Kurator der Ausstellung sehr, sehr viele Sachen gefunden, die bis dahin einfach unbeachtet geblieben sind. Es muss sich halt auch einer darum kümmern. Man kann das nicht sozusagen schultern mit der schmalen Personaldecke, die man in der Akademie zum Beispiel hat.

Heise: Verdirbt das jetzt eigentlich so ein bisschen die Jubiläumsstimmung?

Reichert: Nein, überhaupt nicht, nein, warum?

Heise: Es könnte ja interne Diskussionen darüber geben, gerade wo Sie sagen, wo geht das Interesse eines Präsidenten hin, dass man sich so ein bisschen über Vorgänger mokiert.

Reichert: Sicherlich, aber, ich meine, es ist doch notwendig, dass wir diese Kontroversen – zum Beispiel die Kontroverse um Thomas Mann – öffentlich machen und mit allen Dokumenten angeben, vorlegen. Es ist wichtig, darüber sich im Klaren zu sein, welche antisemitische Stimmung in den ersten Jahren herrschte. Das sind Dinge, die uns so gar nicht klar waren. Herr Böttiger sagte gerade, Herr Pechel, der war ja schließlich auch im KZ, was ihn nicht daran hinderte, antisemitische Töne nach dem Krieg weiter zu haben, und solche Fälle gibt es mehrere. Zum Beispiel der Peter Suhrkamp war nun auch im KZ, sein Lieblingsautor war Rudolf Alexander Schröder. Das sind so Ungleichzeitigkeiten, die freizulegen eine der Aufgaben dieser Ausstellung und der Begleitbände ist.

Heise: Eine Ausstellung, die zurzeit in Berlin läuft, danach weitergeht nach Frankfurt, München, Hamburg und Leipzig, zurzeit zu sehen im Literaturhaus Berlin. Klaus Reichert, Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, und Helmut Böttiger, der als Autor und Kurator die literarische Szene Nachkriegsdeutschlands und die Anfangsjahre der Akademie untersucht. Ich danke Ihnen recht herzlich, Ihnen beiden, dass Sie hier waren!

Service:
Ausstellung "Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland" vom 26. April bis 12. Juli 2009 im Literaturhaus Berlin, danach in Frankfurt, München, Hamburg, Leipzig.
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