Klangtüftler, Kobolde und singende Jogger

Von Jörn Florian Fuchs · 08.05.2011
Im Wald, auf dem Schiff, in der Festung und im Konzertsaal: An vielfältigen Orten lauschten die Besucher der Wittener Tage für neue Kammermusik den Kompositionen von Stefano Gervasoni, Manos Tsangaris, Kirsten Reese und anderen.
Eine Burgruine ist an sich noch kein besonders spektakulärer Ort. Eigentlich reiht sich auch die halb verfallene Festung Hardenstein in der Nähe von Witten in die stattliche Zahl jener Ziele ein, die gern für ein Picknick genutzt werden und ansonsten nicht weiter auffallen. Doch wer sich an diesem Wochenende dem alten Gemäuer näherte, der wurde mit äußerst ungewöhnlichen Dingen konfrontiert: Schon bevor man den hübsch restaurierten Turm erspäht, beginnen plötzlich Bäume, Büsche und Gräser zu flüstern, Stimmen erzählen von irgendeinem Goldemar und seinen Taten, Schreie und Krächzlaute sind zu hören, es knistert und knackt. In Hardenstein angekommen, umschmiegen einen dann eher sanfte Klänge, die kurzzeitig zu Brummlauten und wuchtigen Tonballungen anwachsen.

An vielen Stellen des Mauerwerks hängen Lautsprecher und ein Rudel hübscher junger Damen in nachtschwarzer Kleidung trägt weitere Klangquellen durch die Gegend. Auf einmal schnaubt eine echte alte Eisenbahn angestrengt, ja fast wütend durch die Szenerie.
Die Kieler Klangtüftlerin Kirsten Reese hat diesen Hörparcours geschaffen, der ungemein sinnlich ist, alle Sinne öffnet und noch lange nachhallt. Im Zentrum steht der schon erwähnte Goldemar, eine Art Ruhr-Pumuckl. Goldemar wurde einst gefangen, was ihm überhaupt nicht gefiel und zu Racheakten führte. Es waren allerdings keine harmlosen Meister-Eder-Streiche, Goldemar riss seinen Fänger kurzerhand in Stücke und kochte ihn!

Nach Verlassen dieses eindrucksvoll raunenden Klangraums trifft man am nahen Flüsschen auf Angler, die Musikfische an Land ziehen. Stephan Froleyks hat mehrere wasserfeste Lautsprecher mit allerlei möglichen und unmöglichen Geräuschen bestückt. Ein weiterer Akustikkünstler, Peter Ablinger, wäscht ein paar Meter weiter Wäsche und macht aus den herabfallenden Tropfen mittels Live-Elektronik ein glucksend-heiteres Musikstück.

Noch weiter geht Manos Tsangaris, der Kölner Komponist hat gleich ein ganzes Schiff gemietet. Gemächlich fährt man auf der MS Schwalbe die Ruhr entlang und wird von Musikern an Bord mit kräftigen, vorwiegend ostinaten Tönen beschallt. Aber auch die vorüber ziehende Landschaft spielt mit, da gibt es einen singenden Jogger, kräftig auf den Partyputz hauende Jugendliche, winkende Freizeitler und keiner weiß ganz genau, was geplant und was Zufall ist. Merkwürdigerweise wirken gerade die formationsartig auftretenden Enten, Schwäne und Wildgänse irgendwie inszenierter als so mancher menschliche Protagonist.

Natürlich fanden die Wittener Tage in diesem Jahr nicht nur draußen, sondern auch in den üblichen Konzertsälen statt, wo man gesittet beieinander saß und den üblichen Uraufführungsregen über sich ergehen ließ. Im Zentrum stand diesmal der Italiener Stefano Gervasoni, von dem gleich ein halbes Dutzend Stücke aufgeführt wurden.

Gervasoni ist Schüler von György Ligeti, hat in Mailand studiert und sich am Pariser IRCAM ausführlich mit Elektroakustik befasst. Da könnte man vielleicht komplexe Kopfmusik erwarten, doch weit gefehlt: Gervasoni schreibt recht zugänglich, er setzt keine allzu absurden Spieltechniken ein, und es geht ihm inhaltlich um existentielle Fragen, was in postmodernen Zeiten ja eher eine Seltenheit ist. In seinem Zyklus "Dir - in Dir" vertont, nein, übersetzt er auf atemberaubende Weise Teile aus dem "Cherubinischen Wandersmann" von Angelus Silesius. Es wechseln sich zunächst vokale und instrumentale Passagen ab, mehr und mehr verflechten sich beide Ebenen, die Musik wird im Verlauf strukturell komplexer und zugleich transparenter. Silesius' oft paradoxe Zweizeiler zum Verhältnis von Gott und Mensch, von Sein und Nichts, von Werden und Vergehen bettet Gervasoni in ein feines, erregtes Klanggespinst, das doch große innere Ruhe besitzt.

Gemessen an Gervasoni blieb vieles aus dem weiteren Konzertprogramm eher harmlos und konventionell. Immerhin lieferten die Altmeister Hans Zender und Hans Holliger Altmeisterliches in gewohnter Qualität, allerdings ohne Überraschungen. Harrison Birtwistle brachte ein konzises, quirliges Obenquartett zur Uraufführung, Pascal Dusapin ein von den Mikrogrammen Robert Walsers inspiriertes, sehr luftiges Streichtrio.
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