Kino

Riss im Familiengefüge

Von Martin Hamdorf · 17.11.2014
Im Skiurlaub wird eine schwedische Familie fast von einer Lawine überrollt. Der in Cannes ausgezeichnete schwedische Film "Höhere Gewalt" dreht sich um die dadurch ausgelöste Krise. Regisseur Ruben Östlund schafft eine feine Balance zwischen Spannung und trockenem Humor, inklusive Schreitherapie als Versuch zur Krisenbewältigung.
- "Was war das?"
- "Sieh mal, sieh mal da Harry!"
- "Thomas, ist das eine Lawine?"
- "Ja, aber eine kontrollierte. Was für gewaltige Kräfte das sind."
- "Aber ist das sicher?"
- "Ja, ja, die wissen was sie tun."
(Filmausschnitt)
Alles ist gut, es ist ein wunderschöner Urlaub. Inmitten der herrlichen Alpenlandschaft sitzt eine schwedische Familie beim Mittagessen. Vater, Mutter und zwei Kinder, sie sind ein eingespieltes Team. Regisseur Ruben Östlund erzählt über fünf Tage hinweg von Routine und Ritualen im Skiurlaub:
"Diese tägliche Routine wollte ich besonders herausstellen: Skifahren, essen, Abendessen, Schuhe putzen, Zähne putzen, dann ins Bett und am nächsten Tag wieder zum Skifahren hinaus und so weiter und so fort. Wir führen eben fast alle ein Leben, dass von Routine bestimmt wird und denken nicht mehr groß darüber nach. Parallel dazu steht die tägliche Routine im Skigebiet, der tägliche Kampf zwischen Zivilisation und Natur, der Kampf des Menschen, um die Kräfte der Natur zu bändigen. Dauernd wird Schnee geräumt, werden Lawinen durch Explosionen provoziert oder von Zäunen begrenzt. Ein ständiger Kampf gegen die unzivilisierte Seite der Natur."
Aber dann kommt es in der kontrollierten Natur fast zur Katastrophe.
- "Papa! Papa!“
- "Das ist nicht gefährlich, keine Angst!"
- "Papa!"
- "Für mich sieht das nicht kontrolliert aus."
- "Papa, Papa!!"
- "Harry, Harry, ganz ruhig, keine Angst!"
- "Papa!!!"
- "Alles gut, keine Angst..."
(Filmausschnitt)
Schreitherapie unter tiefblauem Himmel
Eine Lawine rast direkt auf die Terrasse zu, Panik breitet sich aus, die Mutter kümmert sich um die Kinder. Aber alle Gäste ergreifen panisch die Flucht, der Vater vorneweg. Als der aufgewirbelte Schnee langsam sinkt, wird deutlich, dass die Lawine kurz vor der Terrasse stehen geblieben ist. Als der Vater zurück an den Tisch kommt, herrscht betretenes Schweigen. Die Eltern wollen sich auf dem Hotelflur aussprechen, finden aber keine Worte. Ein feiner Riss im Familiengefüge vergrößert sich schnell.
Ruben Östlund: "Diese Familie muss sich nicht wirklich mit einer Katastrophe auseinandersetzen, die Katastrophe findet ja gar nicht statt. Das Problem ist, dass sie einfach sehr hilflos in ihren Rollenerwartungen gefangen sind, was eine wirkliche Frau ist, was ein wirklicher Mann ist. Eigentlich sind sie wohlhabend, haben viel zu viel Zeit, das ist eben dieser Lebensstil, den wir haben, der führt dazu, dass wir uns auf Trivialitäten einlassen."
Ruben Östlund schafft in seinem Film eine feine Balance zwischen trockenem Humor und suspense, bei der sich Triviales mit Komischem und einer ständig fühlbaren Spannung mischt. Der scheinbaren Versöhnung der Ehepartner folgt immer eine neue Krise. Außenstehende werden mit einbezogen, wenn etwa Ebba vor Freunden Thomas Feigheit mit einem vom Mobiltelefon aufgezeichneten Video belegen will:
- "Hier kann man ganz deutlich sehen, dass jemand wegläuft, oder? Da läuft jemand weg. Könnt ihr mir da zustimmen?"
- Hmm"
- "Und man kann sogar deine Skistiefel hören."
- "Ja gut, es sieht aus, als würde ich weglaufen."
- "Gut!"
(Filmausschnitt)
Thomas verdrängt sein Verhalten und sucht unkonventionelle Auswege, lässt sich etwa zu einer befreienden Schreitherapie unter tiefblauem Himmel überreden:
-"Ich soll hier einfach sitzen bleiben und schreien?"
- "Ja, genau so einfach ist das! Eins, zwei drei..."
- "Sehr gut!"
- "Ja, aber richtig aus dem Bauch heraus, richtig aus dem Bauch heraus..."
- "Hör auf, was soll das?"
- "Nein, eins, zwei, drei, noch einmal, jetzt richtig...!"
- "Ja und jetzt gleich noch mal!"
- "Verflucht noch mal, verflucht noch mal, was ist das für eine verdammte Scheiße!"
(Filmausschnitt)
Neue Generation von Filmemachern
"Höhere Gewalt" besticht auch durch eine bewegliche Kamera, die gleichzeitig wunderbare Landschaftsaufnahmen liefert. Der Film bewegt sich elegant zwischen leiser Psychologie und lauten Knalleffekten. In dieser Mischung sieht sich Ruben Östlund auch als Teil einer neuen Generation skandinavischer Filmemacher:
"Wir sind eine Bewegung, die die Filme, die wir machen, nicht mehr so sehr auf die Filmgeschichte beziehen, sondern mehr mit dem vergleichen, was die Zuschauer in Youtube finden. Die spannenden und beeindruckenden Bilder findet man heute fast alle auf Youtube und kaum noch im Kino. Wir müssen heute bessere Bilder machen als all die Amateurfilmer überall auf der Welt. Wir konkurrieren mit Youtube und nicht mehr mit der Filmgeschichte."
Für die Schlusssequenz fand er ein direktes Vorbild auf der Videoplattform Youtube. Bis zum Schluss mischt der Film auf elegante Weise ganz unterschiedliche Stilrichtungen zu einem vielschichtigen Familiendrama mit schwarzem Humor, so alltäglich und so gut beobachtet, dass einem das Lachen im Halse steckenbleibt.
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