Kinderarbeit in Bolivien

Klein, aber groß genug für harte Jobs

Der vierjährige Joel versucht sich auf einem zentralen Platz in La Paz als Schuhputzer.
Ein vierjähriger Junge versucht sich auf einem zentralen Platz in La Paz als Schuhputzer © picture alliance / dpa / epa afp Gonzalo Espinoza
Von Julio Segador  · 09.10.2014
Kinderarbeit ist in Bolivien seit diesem Sommer gesetzlich erlaubt. Die Regierung spricht von Armutsbekämpfung, Kritiker beklagen einen Rückschritt ins Mittelalter. Und die Kinderarbeiter selbst? Unser Autor hat sie gefragt.
Einkaufstour auf dem Mercado Minero in Potosí, einer Stadt in Zentral-Bolivien. Auf dem Einkaufszettel stehen Alkohol, Limonaden, Kokablätter und Sprengstoff. Kleine Geschenke für die Mineros, wie die Bergarbeiter in Bolivien heißen. Der Mercado Minero, der Bergarbeiter-Markt, ist ein riesiger Umschlagsplatz, den Beto immer wieder aufsucht.
"Hier bekommst du alles. Sprengstoff, Arbeitskleidung, Werkzeug, das Dynamit, Kokablätter, Erfrischungsgetränke. Hochprozentigen Alkohol. Was ein Kumpel eben benötigt – hier wird er fündig. Hier gibt es alles, einfach alles."
Beto, der 27 Jahre alt ist, heißt eigentlich Luis Alberto Montes, aber alle rufen ihn nur mit seinem Kosenamen. Er kommt immer zum Markt, bevor er dem "Cerro Rico" einen Besuch abstattet, dorthin, wo er früher selbst arbeitete, und wohin er jetzt Touristen und Besucher bringt. Beto kauft dann die Geschenke für die Bergarbeiter, damit sie ihn in die Mine lassen. Der "Cerro Rico", übersetzt der "Reiche Berg", ist die legendäre Silberschatzkammer der spanischen Kolonialherren im bolivianischen Niemandsland.
Der „Cerro Rico“, der sagenumwobene Silberberg in Potosí.
Der „Cerro Rico“, der sagenumwobene Silberberg in Potosí.© Deutschlandradio - Julio Segador
Bis auf 4800 Meter Höhe erhebt sich der kahle, sandfarbene Berg, von dessen Hängen aus man einen guten Blick auf die Kolonialbauten Potosís und auf die Hügelkette der Anden hat. Zinn, Blei, Kupfer, vor allem aber Silber trotzen die Kumpel dem Berg ab, seit fast 500 Jahren, bis heute. Auch Beto musste schon früh ran, als Kind in die stockfinsteren Stollen des "Cerro Rico".
"Mit elf Jahren, eher schon mit zehn ging ich in die Mine, half dort gelegentlich meinem Vater. Mit zwölf Jahren sagte er mir: Du musst mich ab jetzt immer unterstützen. Ich musste von klein auf meinem Vater helfen, so wie dieser meinem Großvater geholfen hatte."
Knochenarbeit für Zwölfjährige
Schon wenige Meter hinter dem Eingang des Stollens wird es stockdunkel. Die Grubenlampe am Helm wirft nur ein spärliches Licht in die finsteren Gänge, die die Spanier ab dem 16. Jahrhundert von den versklavten Indiovölkern anlegen ließen. In diesem Schacht steht das Wasser knöcheltief. Beto weiß noch genau, wie es ihm erging, als er mit zehn Jahren zum ersten Mal in den "Cerro Rico" ging:
"Als ich die ersten Male hier richtig arbeiten musste, dachte ich mir: Oh Gott, ich will das nicht, ich kann das nicht. Das ist Knochenarbeit. Dazu die Dunkelheit. Aber mit der Zeit hat sich der Körper daran gewöhnt, die Schufterei hat ihn abgehärtet. Der Körper hat die Arbeit in der Mine angenommen, auch wenn es alles andere als gesund ist."
Bis heute holen die "Mineros" Silber aus dem Berg, auch wenn es nicht mehr viel ist, was die spanischen Eroberer übrig ließen. Etwa 11.000 Kumpel arbeiten derzeit im "Cerro Rico" unter zum Teil unmenschlichen Bedingungen, darunter auch einige hundert Kinder und Jugendliche. Dass diese harte Arbeit in den Minen für Minderjährige in Bolivien per Gesetz verboten ist, interessiert dabei kaum jemanden.
"Schon damals war die Kinderarbeit hier in der Mine illegal. Aber die Regierung hat das niemals kontrolliert. Ich habe nur des Geldes wegen gearbeitet. Wir waren zu neunt in der Familie, jeder musste da in der Mine mithelfen. Das ist die Realität."
Aus einem kleinen, engen Seitenstollen dringen Klopfgeräusche, die beiden Brüder Richard und Félix arbeiten hier. Die Luft ist voller Staub, das Atmen fällt schwer. Es schnürt einem die Kehle zu. Richard schlägt mit einem klobigen, schweren Hammer und einem langen Meißel eine etwa 30 Zentimeter lange Röhre in den Fels.
"Ich vergrößere das Bohrloch, um dort den Sprengstoff für die Explosion zu platzieren. Es fehlen noch einige Zentimeter. Das ist harte Arbeit. Dann wird gesprengt und wir haben rund eine Tonne loses Gestein. Und mit dem kleinen Wagen dort befördern wir es nach draußen."
Kinderarbeiter bringen die Mineralien und das Gestein nach draußen.
Kinderarbeiter bringen die Mineralien und das Gestein nach draußen.© Deutschlandradio - Julio Segador
Plötzlich lugt hinter dem Wagen eine dritte Person hervor, es ist Ariel, Richards Sohn. Der 14-Jährige hatte sich versteckt, weil er eigentlich noch gar nicht in der Mine arbeiten darf. Doch jetzt zeigt er sich. Der braune Helm ist viel zu groß für den Kopf des Jugendlichen, das Gesicht ist vom Staub verdreckt, er blickt verschämt zu Boden, redet nur leise. Seit vier Jahren geht er mit seinem Vater und seinem Onkel in den "Cerro Rico".
"Na ja, es geht schon einigermaßen. Ich arbeite hier, um meiner Familie zu helfen. Manchmal denke ich schon, dass ich zu früh in die Mine bin, noch zu klein war. Ein Jahr noch will ich es machen, dann möchte ich wieder zur Schule gehen."
850.000 Kinder arbeiten, statt zur Schule zu gehen
So wie Ariel in der Silbermine von Potosí müssen unzählige Kinder in Bolivien von klein auf arbeiten, Geld für den eigenen Lebensunterhalt und den ihrer Familien verdienen. Nach Angaben der Regierung arbeiten landesweit rund 850.000 Kinder und Jugendliche zwischen fünf und 17 Jahren, anstatt zur Schule zu gehen. Also fast jedes dritte Kind. Sie streifen durch die Städte als Schuhputzer, reinigen Windschutzscheiben, kassieren in Minibussen, packen in der Landwirtschaft mit an, helfen bei der Zuckerrohrernte oder schuften in den Minen des Landes.
Während dort Minderjährige offiziell gar nicht arbeiten dürfen, hat das bolivianische Parlament vor wenigen Wochen ein Gesetz verabschiedet, das Ausnahmen regelt. So dürfen sich Kinder bereits ab dem zehnten Lebensjahr selbst verdingen, Zwölfjährige sogar schon angestellt werden. Das Gesetz soll nach Ansicht von Regierung und Mehrheitspartei die Rechte der Kinder stärken, für die die tagtägliche Arbeit, mit der sie ihre Familie unterstützen, Realität ist.
Osmar ist eines dieser Kinder. Der 16-Jährige stammt aus Oruro, einer tristen Bergarbeiterstadt etwa vier Stunden von Potosí entfernt. Er habe schon überall gearbeitet, rühmt er sich und erzählt, dass er seinen ersten richtigen Job mit acht Jahren als Bauarbeiter hatte.
"Oft ist das Kind der Ernährer der Familie. Viele sind Waisen und sie müssen für die kleineren Geschwister die Verantwortung übernehmen, damit sie nicht betteln müssen. Etliche Kinder unter 14 denken so. Und viele meiner Freunde arbeiteten deshalb als Bauarbeiter, um so an Geld zu kommen."
Und sie machen auf sich aufmerksam, die Kinderarbeiter. In ganz Bolivien haben sich Organisationen gebildet, die dafür eintreten, dass die Kinder schon von klein auf legal arbeiten dürfen. In Oruro haben sich auf einem zentralen Platz Miriam, Andrea, Osmar und David getroffen. Sie gehören UNATSBO an, der Union der arbeitenden Kinder und Jugendlichen in Bolivien. Boliviens Kinderorganisationen sind vehement dafür eingetreten, dass die Kleinen schon ab zehn Jahren selbstständig arbeiten dürfen, sie waren es, die massiven Druck auf die Politik ausgeübt haben.
Die Kindergewerkschafter von Oruro: Osmar, David, Miriam, Andrea und Mario (v.l.n.r.)
Die Kindergewerkschafter von Oruro: Osmar, David, Miriam, Andrea und Mario (v.l.n.r.)© Deutschlandradio - Julio Segador
Die Änderungen in der bolivianischen Gesetzgebung, wonach es Ausnahmen vom international gültigen Mindestarbeitsalter von 14 Jahren gibt, sind im Wesentlichen auf die Kinder selbst zurückzuführen. Ein weltweit einmaliger Vorgang, den Miriam, die jahrelang an der Spitze von UNATSBO stand, verteidigt:
"Uns ging es bei unserem Kampf darum, dass man der Kinderarbeit mit Würde begegnet. Wir sind gegen die Ausbeutung der Kinder, also dagegen, dass Jugendliche in den Minen schuften. Das ist klar eine Ausbeutung. Aber dafür sind die Erwachsenen, die diese Kinder anstellen, verantwortlich. Uns ging es einzig um die Würde der Kinderarbeit."
Für die meisten Kinder in Bolivien ist Arbeit zudem die einzige realistische Möglichkeit, der bitteren Armut im Land zu entfliehen. Mit den wenigen, schwer verdienten Bolivianos könnten sie sich Dinge leisten, die ohne die Schinderei im Kindesalter nicht möglich wäre, meint Miriam.
"Es geht auch um eine bessere Lebensqualität. Die Kinder und Jugendlichen wollen moderne Handys, iPods und Tablets. Die Eltern können sich so etwas meist nicht leisten. Diejenigen, die arbeiten, können sich das dann leisten. Oder Klamotten: Die Eltern kaufen meist billige Kleidung. Wer Markenware will, arbeitet eben und kauft sie sich. Und viele arbeiten auch, um sich Schulsachen zu kaufen. Hefte und Bücher."
Miriam redet wie eine lebenserfahrene junge Frau. Dabei ist sie erst 17 Jahre alt. Und doch hat sie schon unzählige Jobs hinter sich. Im Kopierladen, als Süßigkeiten-Verkäuferin auf der Straße, sie putzte Grabsteine, hütete Kinder, bediente im Café und verkaufte Schrauben und Nägel im Eisenwarenladen. Mit acht Jahren begann ihre Karriere als Arbeiterin. Nun mit 17 fühlt sie sich schon längst erwachsen.
"Die Kinder, die von klein auf arbeiten, entwickeln frühzeitig ein eigenes Verantwortungsgefühl. Sie sind unabhängig, unterstützen ihre Familie finanziell und lernen das wahre Leben kennen. Das Gute und das Böse da draußen."
Kinderarbeiter demonstrierten für ihre Rechte
Als die bolivianische Regierung zögerte, die Ausnahmen vom Mindestarbeitsalter mit 14 Jahren gesetzlich zu verankern, zogen Tausende von Kinderarbeitern aus ganz Bolivien zum Regierungssitz nach La Paz um dort für ihre Rechte zu demonstrieren. Es kam zu Ausschreitungen, die Polizei ging mit Schlagstöcken und Tränengas gegen die Heranwachsenden vor, Dutzende wurden verletzt. Erst als Präsident Evo Morales einige Kinderarbeiter persönlich empfing, beruhigte sich die Lage.
Christian ist eines dieser Kinder, die nichts haben. Mit zwölf verließ er sein Zuhause, wo er von seinem Vater immer wieder geschlagen wurde. Seither lebt der heute 14-Jährige auf der Straße. Christian arbeitet an einer Kreuzung als Scheibenwischer. Er reinigt im Schnelldurchgang während der Haltephasen an einer roten Ampel die Windschutzscheiben der Autos. Ein stressiger Job für den Jugendlichen.
"Der Druck hier ist gewaltig. Man hat nie Ruhe. Immer wieder gibt es Streit mit den anderen, die diesen guten Platz wollen. Hier putzen außer mir noch fünf weitere. Manchmal sogar mehr."
Kinder wie Christian sind es, die in Bolivien kaum Chancen haben, und die auf die Minijobs, die ihnen ein paar Bolivianos einbringen, angewiesen sind. Glücklich fühlt sich der 14-Jährige dabei nicht. Er weiß um seine schwierige Situation:
"Na ja, ich merke schon, dass ich hier nur rumhänge. Das macht mir schon zu schaffen. Ich musste jegliche Scham fallen lassen, um diese Arbeit hier zu machen. Andere Kinder, die in normalen, besser gestellten Familien groß werden, dort glücklich sind, müssen solche Jobs wie ich hier nicht machen."
Zurück im "Cerro Rico", dem legendären Silberberg von Potosí. Beto geht vorsichtig voran durch die dunklen Stollen des "Reichen Berges". Beto ist jetzt 27 Jahre alt. Er denkt daran, eine Familie zu gründen. Würde er es unterstützten, wenn sein Sohn später auch einmal in die Mine geht? Vielleicht schon mit zehn, elf Jahren, so wie er? Beto schüttelt den Kopf:
"Ich habe in der Mine so sehr gelitten, ich würde ihn hier nicht sehen wollen. Ich würde versuchen ihm zu helfen, irgendwie. Auch wenn es schwierig ist. Abends zu lernen ist mit der schweren Arbeit kaum möglich. Der Körper ist müde, bis zum nächsten Tag kommt man einigermaßen zu Kräften, und dann beginnt der Kampf gegen die Mine von neuem."
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