Kinder als Kostensenker

Von Marita Vollborn und Vlad Georgescu · 26.09.2012
Sollten alle gesetzlichen Kassen ihre riesigen Überschüsse als Prämien auszahlen? Nein, sagen die Medizinjournalisten Marita Vollborn und Vlad Georgescu. Ihrer Meinung nach haben die Kassen vor allem deswegen so viel Geld, weil sie bei Kindern massiv gekürzt hätten.
Wenn es um die Gesundheit seiner Bürger geht, liebt der Staat kostenneutrale Binsenweisheiten. Das gefährdet nicht nur Leib und Leben insbesondere der Kinder im Lande, sondern erhöht dadurch auch die späteren Gesundheitsausgaben. Infolge dieser unsäglichen Konstellation steigt wiederum der Spardruck - es ist ein Kreislauf der Ignoranz, der unterbunden werden sollte.

Ein Beispiel: Gesetzliche Krankenkassen erzielen Milliardenüberschüsse. Trotzdem setzen sie unbemerkt von der Öffentlichkeit bei Kindern den Rotstift an. Künftig sollen die Eltern den ersten Krankenhaustag ihres Nachwuchses selbst bezahlen – das hat die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie mitgeteilt. Denn die gesetzlichen Krankenkassen könnten diese bisherige Leistung nur noch in besonders schweren Fällen übernehmen. Zunächst scheint für Vater Staat die Rechnung aufzugehen. Denn so lassen sich bei stationären Operationen an Kindern jedes Jahr mindestens 500.000 Krankenhaustage einsparen.

Und deshalb macht das Beispiel Schule. Geht es um die Reduzierung der Gesundheitsausgaben für Kinder, kennt das deutsche Gesundheitssystem kein Pardon. Das aber wird von vielen erst dann wahrgenommen, wenn es den eigenen Nachwuchs betrifft.

Vor allem auf Kliniken für krebskranke Kinder wirken sich die massiven Kürzungen hart aus. So moniert die Deutsche Kinderkrebsstiftung, dass die psychosoziale Betreuung von Eltern und Kindern oft nur noch über Drittmittel oder Elternvereine gewährleistet wird. Das Gesundheitssystem hat sich aus der Finanzierung längst zurückgezogen.

Die gravierenden Einschnitte sind Folge einer erbarmungslosen Ökonomisierung in der Medizin. Das Prinzip, nach dem die Leistungen für Kinder eingedampft werden, ist einfach: Krankenhäuser erhalten für bestimmte Leistungen lediglich Pauschalsätze. Die verheerende Auswirkung: Sie können für die besonders aufwändige Betreuung der kleinen Patienten nicht genug Personal einstellen.

Das lässt sich mit Zahlen belegen. Schon heute werden bundesweit 15 Prozent aller kinderkrebsbezogenen Stellen durch Trägervereine oder andere Institutionen finanziert. Das hat das Universitätsklinikum Münster berechnet. Kurz: Der Staat und die gesetzlichen Krankenkassen ziehen sich aus ihrer Verantwortung zurück.

Solche Beispiele sind einerseits für die betroffenen Kinder dramatisch. Die Streichungen sind aber auch aus gesundheitsökonomischer Sicht unsinnig. Viele Erkrankungen ließen sich im Kindesalter therapieren, werden aber im Erwachsenenleben zur chronischen Malaise.

So ist unter Medizinern unstrittig, dass die meisten fettleibigen Kids in ihrem späteren Leben an Typ-2-Diabetes, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Gelenk- und Rückenbeschwerden leiden werden. Das trifft eine Million Kinder in Deutschland – aber lediglich rund 12.000 von ihnen werden in ambulanten Therapieprogrammen behandelt. Für Kinder unter sechs Jahren fehlen diese Therapiemöglichkeiten aus Kostengründen vollkommen.

Genau das rächt sich später - rund ein Fünftel der Gesundheitsausgaben gehen auf Fettleibigkeit im Erwachsenenalter zurück. Damit die Gesamtkosten trotzdem nicht allzu drastisch steigen, setzen die Gesundheitspolitiker den Rotstift wiederum bei Kindern an. Kafka hätte seine Freude an diesem Stoff.

Es drängt sich daher die Frage auf: Verstehen viele Gesundheitspolitiker diese einfachen Zusammenhänge nicht? Man muss es befürchten. Denn der Staat investiert lieber in nette Publikationen, die Gesundheit zum Nulltarif versprechen.

Die offizielle "Strategie der Bundesregierung zur Förderung der Kindergesundheit" zum Beispiel wurde bereits 2008 verfasst und ist noch heute auf den Ministeriumsseiten von Daniel Bahr prominent platziert. Sie verkündet: "Radfahren fördert die seelische und körperliche Entwicklung." Eine wirklich billige Erkenntnis.


Marita Vollborn, 1965 geboren, studierte Agronomie an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie Journalistik an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover. Sie ist freie Wissenschafts- und Wirtschaftsjournalistin und leitet seit 2001 zusammen mit Vlad Georgescu das international erscheinende Biotech-Webzine LifeGen.de. Zusammen mit Vlad Georgescu schrieb sie "Die Joghurt-Lüge. Die unappetitlichen Geschäfte der Lebensmittelindustrie" und "Kein Winter, nirgends. Wie der Klimawandel Deutschland verändert".

Vlad Georgescu, 1966 geboren, studierte Chemie an der TU Hannover und Journalistik an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover. Er ist freier Wissenschafts- und Wirtschaftsjournalist und leitet zusammen mit Marita Vollborn seit 2001 das international erscheinende Biotech-Webzine LifeGen.de. Er ist Mitglied der Wissenschaftspressekonferenz (WPK). Gemeinsam mit Marita Vollborn schrieb er "Die Joghurt-Lüge. Die unappetitlichen Geschäfte der Lebensmittelindustrie" und "Kein Winter, nirgends. Wie der Klimawandel Deutschland verändert".
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