Kein Ort des stillen Verdämmerns

Rezensiert von Frank Meyer · 12.08.2005
Annegret Held erzählt in ihrem Roman "Die letzten Dinge" Geschichten aus einem Pflegeheim. Es ist einiges los auf der Station. Sie ist kein Ort stillen Verdämmerns. Die Wünsche, der Zorn oder die Lust eines langen Lebens brechen hier noch einmal auf und bereiten dem Pflegepersonal allerhand Probleme.
Jewgegni Schiwrin zum Beispiel war mal ein Held des Eisenbahnbaus. Durch die Taiga Sibiriens hat der Ingenieur das Kernstück der Baikal-Amur-Magistrale gebaut. In Deutschland hat Schiwrin für den ICE Berge durchtunnelt. Jetzt aber sitzt Jewgegni Schiwrin im Pflegeheim. Ein Tumor wütet in seinem Kopf. Er lässt die Möbel vor seinen Augen tanzen, er löst Schwirins alte Welt immer mehr auf.

Annegret Held erzählt in ihrem Roman "Die letzten Dinge" viele solcher Geschichten wie die von Jewgeni Schiwrin. Man lernt Frau Wissmar kennen, 98 Jahre alt, früher Personalchefin der Degussa, oder Herrn Kurtacker, der regelmäßig randaliert, wenn die Pflegekräfte sein Zimmer betreten. Herr Kurtacker ist Erotomane. Lange lässt er sich durch Belieferung mit erotischen Zeitschriften und Videos zufrieden stellen. Zwei besonders gutwillige Pfleger wollen Herrn Kurtacker seinen dringendsten Herzenswunsch erfüllen und führen ihm eine Prostituierte zu. Aber der Sex-Protz Kurtacker versagt. Deshalb tobt und wütet er, bis die Polizei ihn bändigt. Die Untersuchung des Falls führt die Pflegestation in die tiefste Krise ihres Bestehens.

Es ist einiges los auf der Station. Sie ist kein Ort stillen Verdämmerns. Die Wünsche, der Zorn oder die Lust eines langen Lebens brechen hier noch einmal auf, oft zum letzten Mal. Das Pflegepersonal muss damit leben. Es stellt neben den Heimbewohnern die zweite bunte Porträtgalerie in diesem Buch. Die Hilfskraft Lotta ist ganz frisch hierher geraten. Mit ihrem naiven und idealistischen Blick ist sie die ideale Erzählerin des turbulenten Pflegealltags. Der bisexuelle Kroate Ivy steht ihr zur Seite, wenn er nicht gerade wieder in seinem äußerst aktiven Nachtleben abgestürzt ist. Weitere Beiträge zum multikulturellen Geschehen kommen von Schwester Nadjeschda aus Sibirien und Pflegehelferin Gianna. Die Italienerin ist hier natürlich für das Katholische zuständig, insbesondere für die Geistererscheinungen in der Wäschekammer. All diese Frauen und Männer kreisen um Schwester Rosalinde, eine selbstlose, nein: eine selbstvergessene Neuauflage von Florence Nightingale.

In kurzen Auftritten lässt Annegret Held die Figuren durch den tragikomischen Roman wandern. Alle sind typisiert, die Geschichten sind es oft auch. Das schrammt oft hart am Klischee vorbei, bei den Barmherzigen wie bei den Verrückten. Der Roman fängt es auf, indem er die einzelnen Geschichten im Märchen- und Legendenton darbietet. Sein letzter Satz ist: "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute." Wie gute Märchen hat der Roman auch die Härte des wirklichen Lebens. Natürlich wird gestorben und gelitten in diesem Pflegeheim. Am grauenvollsten endet Jewgeni Schiwrin, dem der Krebs nach dem Kopf die Eingeweide zerfrisst.

Angesichts des Todes hat der Roman seine berührendsten Momente. Als Frau Wissmar stirbt, bringt es Lotta nicht über sich, die alte Frau einfach so gehen zu lassen. Die Atheistin versucht sich, nachts und allein, an einer letzten Ölung, sehr unbeholfen und voller Distanz zu der katholischen Rhetorik von Schuld und Sünde und Verdorbenheit. Sie ringt um ein Ritual des Abschieds, um ein würdevolles Sterben. Die Trauer und die Komik der letzten Dinge, ihre Endgültigkeit und ihre Natürlichkeit, die zeigt uns Annegret Held in ihrem Roman.

Annegret Held: Die letzten Dinge
Roman
Eichborn Verlag. Frankfurt am Main 2005
367 Seiten, 22,90 Euro