Karl Scheffler: "Berlin - ein Stadtschicksal"

Das ewig unfertige Berlin

Die Baustelle des Berliner Stadtschlosses mit Humboldt-Forum ist bei einem Rundgang am 05.05.2015 in Berlin zu sehen.
Fehlt Berlin eine übergeordnete Planungsidee? Die Baustelle des Berliner Stadtschlosses mit Humboldt-Forum im Mai 2015, die Eröffnung ist für September 2019 geplant. © picture alliance / dpa / Stephanie Pilick
Von Edelgard Abenstein · 26.11.2015
Berlin sei "dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein". So beschrieb der Kunstkritiker Karl Scheffler 1910 seine Hass-Liebe zur deutschen Hauptstadt. Florian Illies gibt nun seine funkelnd sarkastische Streitschrift "Berlin - ein Stadtschicksal" neu heraus.
Gäbe es Ranglisten für Berlin-Zitate, dann stünde eines konkurrenzlos an erster Stelle, ohne das kein Reiseführer, kein Architekturbuch auskommt: Berlin, so heißt es, sei "dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein". Mit dieser Schlusszeile setzte der Kunstkritiker Karl Scheffler 1910 seiner Analyse der deutschen Hauptstadt die Krone auf. Düster, grandios und herrlich boshaft - wie das gesamte Buch - ist es der Paradefall einer Hass-Liebe.
Berlin ist in den Augen Schefflers eine Kolonialstadt, gegründet, um den Osten zu erschließen und viele Pioniere einzusammeln. Seither gehört das "ewig Unfertige", der quasi einem Naturgesetz folgende Wandel zu ihren typischen Merkmalen. Nichts rundet sich hier, nichts entfaltet sich organisch. Was fehlt, ist eine übergeordnete Planungsidee - "das ganze neue Berlin gehört den Bauunternehmern".
Bauliche Fantasielosigkeit herrsche vor, von Schlüters Schloss bis zu den uniformen Gründerzeitquartieren der Vororte, weil "keiner diesem Rudel willensstarker Profitjäger dreingeredet" hat. So kommt es, dass das ganze neue Berlin nicht das "Resultat eines Stadtbewusstseins ist, sondern das Produkt des Baumarktes".
"Materialistisch orientierte Eigenbrötler"
Und die Berliner? Nichts als ein wild zusammengewürfelter "Haufen materialistisch orientierter Eigenbrötler". Kunst bedeutet für sie, dass man die Wohnung damit möbliert, Kunstausstellungen sind "Unterhaltungsmittel" und "Liebesmarkt". Auch mit den Ess- und Trinkgewohnheiten ist es nicht weit her, sie schmecken "nur die Freude, sich selbst hochgeehrt vom Wirt in einem prächtigen Saal zu sehen". Unkultur auch im Umland - eine Gegend des Flaschenbiers.
Bei aller Streitlust, Scheffler räumt ein, dass die geschmähte Traditionslosigkeit auch Vorteile bietet. Sie enthemmt und schafft "absolute Bewegungsfreiheit", weshalb in der Reichshauptstadt ein "leistungsfähiges Talent" immer eine Chance hat. Wie der Autor selbst.
Auch Scheffler ist ein Zugewanderter und ein Autodidakt. 1869 in Hamburg geboren, siedelte er 1890 nach Berlin um, arbeitete als Musterzeichner in einer Tapetenfabrik und profilierte sich zugleich als Kunstpublizist. Der Freund Max Liebermanns und Redakteur der Zeitschrift "Kunst und Künstler" war ein gefürchteter und sachkundiger Kritiker.
Herrlich auf den Punkt formuliert
Man muss nicht jedem seiner Urteile folgen, manches wirkt altbacken. Aber insgesamt ist diese Streitschrift so funkelnd sarkastisch, so herrlich auf den Punkt formuliert - vieles klingt wie eine heutige Polemik - dass die Lektüre ein wahres Vergnügen ist.
Florian Illies hat das Buch mit einem Vorwort versehen, ganz im Schefflerschen Übertreibungsstil schlägt er die Brücke zum Start-up- Berlin, der Hauptstadt der Projekte, "wo die "Visionen blühen wie andernorts die Wirtschaft". Allerdings, dessen Rolle als Herausgeber hätte man sich weniger bescheiden gewünscht.
Neben dem abgedruckten Text läse man gern etwas zur Rolle Schefflers in der damaligen Kunstszene, auch ein simples Namensregister wäre hilfreich. Natürlich nur, um beim Name-dropping in der "Hauptstadt der Halbbildung" mithalten zu können.

Karl Scheffler: "Berlin - ein Stadtschicksal"
Hrsg. und mit einem Vorwort von Florian Illies
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015
222 Seiten, 21,95 Euro

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