Kampf um das Erinnern

Von Joachim Walther · 16.09.2010
Was war die DDR? "Unrechtsstaat" oder "legitimer Versuch, eine gerechtere Gesellschaft aufzubauen"? Daran entzünden sich immer wieder heftige Debatten. Und dabei sind die Begriffe nicht unwichtig: Wer sie setzt, beeinflusst das kollektive Gedächtnis.
Die Kontrahenten in diesem Kampf ums Erinnern sind auf der einen Seite die Partei Die Linke, ihre Anhänger, Anhängsel und Sympathisanten, frustrierte Ostalgiker und junge Neo-Utopisten. Auf der anderen Seite die Demokraten mit antitotalitärem Konsens, die Mehrheit der demokratischen Parteien, der Medien und der Geschichtswissenschaft, dazu die Opfer und Bürgerrechtler aus der DDR sowie die Institutionen zur Aufarbeitung der DDR-Diktatur.

Die DDR-Verteidiger sind hierbei keineswegs erfolglos. Noch immer glauben 74 Prozent der Ostdeutschen, der Sozialismus sei eine gute Idee gewesen, nur schlecht ausgeführt. Das ist erschreckend, doch erklärbar, arbeiten doch neben der federführenden Links-Partei etwa 100 Ex-Funktionärsverbände mit ca. 100 000 Mitgliedern emsig an der Ehrenrettung der DDR, dazu veröffentlichen Juristen, Stasi-Offiziere und Ökonomen aus DDR-Zeiten dicke Bücher, in denen sie das System zu salvieren suchen. Da wird rhetorisch relativiert, sprachlich laviert, schöngeredet, weich gespült. Die Sprache bringt es an den Tag.

Beispiel: "Unrechtsstaat": Die stereotype Abwehrformel lautet, die DDR sei zwar "kein vollkommener Rechtsstaat", aber auch "kein totaler Unrechtsstaat" gewesen, denn auch da seien Mord und Diebstahl geahndet worden. Ein bisschen Rechtsstaat also: Rabulismus in Reinkultur. Auch bei Pinochet und Hitler wurden Mord und Diebstahl bestraft. Staatliches Unrecht ist da, wo Macht vor Recht geht. Und ein Staat, in dem es keine unabhängige Justiz, keine Verwaltungsgerichtsbarkeit, kein Verfassungsgericht, keine Gewaltenteilung gibt, ist ein Unrechtsstaat. Punkt

Dieser klare Befund ist nicht aus der Welt zu schaffen, indem man ihn einen "politischen Kampfbegriff" nennt und behauptet, er verletze das Empfinden der Ostdeutschen. Wie das? Niemand hat je ernsthaft bestritten, dass auch in Diktaturen gelebt, geliebt, gelacht und rechtskräftig geheiratet und geschieden worden ist. Preisfrage, Genossen: Von wem stammt wohl der Satz "Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein"? Von Gregor Gysi? Lothar de Maizière? Oder vom ehemaligen NS-Marine-Richter und späteren Ministerpräsidenten Hans Filbinger?

Weitere Reizworte sind: "DDR-Diktatur" oder, schlimmer noch: "Zweite deutsche Diktatur". Wie aber sonst sollte man Staatsformen, gleich ob nationalsozialistisch oder sozialistisch begründet, definieren, die ihren Bürgern fundamentale Rechte wie Meinungs-, Versammlungs-, Wahl-, Reise- und Pressefreiheit vorenthalten?

Sie selbst indes sind nicht zimperlich beim Setzen von Begriffen. So nennen sie die misslungene juristische Aufarbeitung der DDR-Diktatur "Siegerjustiz", schwadronieren von "Hexenjagd", "Inquisition" und "Rentenstrafrecht", reduzieren die Verbrechen im Namen des Sozialismus sprachlich auf "Fehler, Entstellungen und Rechtsverstöße", verrechnen "Demokratiedefizite" mit "sozialen Errungenschaften", erklären Mauerbau und Schießbefehl zum Resultat des Kalten Krieges ... und so weiter.

Statt hier alle verbalen Kniffe, rhetorische Finten und historische Legenden zu entzaubern, kann ich nur empfehlen: Hören Sie zu, merken Sie auf, haben Sie acht!


Joachim Walther, , Schriftsteller, geboren 1943 in Chemnitz, studierte an der Humboldt-Universität Berlin Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte. Er war seit 1968 beim Ost-Berliner Buchverlag Der Morgen als Lektor und Herausgeber tätig und arbeitetet für die Wochenzeitschrift Die Weltbühne; später dann als Redakteur für die Literaturzeitschrift Temperamente. Seit 1983 ist Walther als freiberuflicher Schriftsteller tätig. In seinen Werken setzte er sich immer wieder mit Fragen auseinander, die das starre DDR-Regime für ihn aufwarf. Werke u. a. "Risse im Eis" (1989), "Protokoll eines Tribunals" (1991), "Verlassenes Ufer" (1994), "Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der DDR" (1996) und "Himmelsbrück" (2009).