Kampf dem Schmutz

Von Sibylle Hoffmann · 22.04.2010
Wer den oscarpreisgekrönten Film "Slumdog Millionär" gesehen hat, der konnte eine Vorstellung davon bekommen unter welch menschenverachtenden Umständen die Menschen in den indischen Slums zum großen Teil leben müssen. In Indien wächst die Bevölkerung schnell, Wohnraum ist knapp und zu teuer, da die Migration in die Städte groß ist.
2050 werden die Hälfte aller Inder in den Städten leben. Das heißt, auch die Slums wachsen weiter. Ein ständig gegenwärtiges Problem dort ist die Wasserver- und –entsorgung. Anständige Toiletten, sauberes Trinkwasser und sorgfältige Abwasserleitungen sind die Ausnahme. Weil die Slums illegal und die Bewohner meist arm sind und keine Steuern zahlen, tut sich der Staat schwer, für eine reguläre Infrastruktur mit Wasser, Strom und Müllabfuhr zu sorgen.

Indrapal Singh erwartet Besuch. Er steht im gebügelten Hemd vor seinem Zwei-Zimmer-Häuschen mitten in Neu Delhi. Sein Heim ist mit himmelblauer und grellgrüner Farbe gestrichen, um Mücken abzuhalten. Der 48-jährige Vater von drei schulpflichtigen Kindern lebt mit seiner Familie im Rangapuri Slum, etwa etwa 200 Meter vom eleganten Jaypee Hotel entfernt. Der Fernseher läuft, es gibt sogar Strom. Gerade kommt sein Gast, die Stadtplanerin Aparna Das, der Indrapal sein Zuhause vorstellt:

"Zwei Zimmer und eine Küche, zwei Töchter, einen Sohn und meine Frau und ich. Vier Personen und ich."

Aparna: "Das arbeitet für die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit und engagiert sich für bessere hygienische Verhältnisse in den stetig wachsenden indischen Slums. Sie zeigt auf die kleine Kochstelle in Indrapals Haus und fragt: Habt ihr auch Wasser?"

Pani atta hä?

Indrapal schüttelt den Kopf. In Rangapuri wird nur alle zwei bis drei Tage Grundwasser hochgepumpt. Dann stehen die Bewohner am öffentlichen Hahn Schlange, besonders im Sommer, wenn die Tagestemperaturen auf über 40 Grad Celsius ansteigen. Aparna weiß aus Erfahrung, das ist illegal abgeleitetes und verkauftes Wasser.

Die Rangapuri-Siedlung mit ihren 2000 Familien liegt versteckt unter Büschen. "Wald" oder auch "Dschungel" sagen die Menschen hier zu diesem Gestrüpp. Um einen alten Dorfkern, haben sich die Bewohner mit grob gefugten Ziegeln winzige Wohnstätten gebaut. Illegal. Darum haben sie in ihren Häusern weder Wasseranschluss noch –abfluss und auch keine Müllabfuhr.

Für das illegale Wasser vom Gemeinschaftshahn zahlt Indrapal monatlich 50 Rupies, 80 Cent. Er ist Barkeeper in einem staatlich geführten Hotel und verdient monatlich 10.000 Rupies, etwa 150 Euro. Das Häuschen gehört ihm, er hat es vor 20 Jahren gebaut, ohne Toilette.

Indrapal: "Keine Toilette, wir gehen raus in die Büsche. Ich will allein sein."

Ardschena, die älteste Tochter ist eben aus der Schule gekommen und trägt noch ihre hellblau-weiße Schuluniform: ein Kittel mit Hosen und einem Schal. Die 13-Jährige lächelt verlegen, als Aparna sie anspricht.

Ardschena: "Wenn wir rausgehen ist es nicht nur schmutzig. Es kann Dich jeder sehen. Da gibt es viele Probleme. Zu viele Probleme."

Wenn sie zuhause ist, geht sie morgens um fünf oder spät am Abend in den Busch. Aber es gibt eine Toilette in der Schule. Das ist immerhin eine Rettung, findet Ardschena. Neugierige Nachbarn hören dem Mädchen zu, auch diese alte Frau:

"Es gibt hier viele Nachteile, das Abwasser und so. Aber der Vorteil ist: Es ist hier nicht so eng wie anderswo. Wir haben gute Luft. Darum werden wir auch nicht krank. Es ist vielleicht oberflächlich schmutzig hier – aber es ist nicht wirklich dreckig. Woanders haben sie keinen Wind, und das macht krank."

Aparna: "Ich frage nach Polio, denn in Uttar Pradesh und in Delhi ist erneut die Kinderlähmung ausgebrochen. Aber sie sagen, das gibt es hier nicht. Man müsste natürlich etwas genauer hinsehen, denn es gibt Dinge, von denen wird erzählt, und von anderen spricht man nicht. Besonders das Thema Frauengesundheit ist ein Tabu."

Aparna arbeitet seit vielen Jahren an der Verbesserung der Wohnverhältnisse in den indischen slums. Zunächst bei der Abteilung für Internationale Entwicklung der Britischen Regierung, dann seit anderthalb Jahren für die GTZ an verschiedenen Orten in Indien. Dabei unterstützt sie die indische Regierung bei ihrem Vorhaben, mehr Menschen in den Städten Zugang zu Toiletten zu verschaffen. Beteiligt hierbei sind auch Nichtregierungsorganisationen wie das "Forum for Organised Resource Conservation and Enhancement”, kurz FORCE.

Präsidentin ist Jyoti Sharma, die die auf das Thema Wasser- und Abwasser spezialisierte NGO vor sechs Jahren gegründet hat. Sie und ihre etwa 20 Mitarbeiter suchen Kontakt zu verschiedenen Slums und erarbeiten mit den Slumbewohnern, der Regierung und anderen Organisationen Projekte, um dort die hygienischen Verhältnisse zu verbessern. Mit Aparna, der GTZ–Vertreterin, will Jyoti über den Rangapuri-Slum sprechen.

Jyoti steht in Jeans und Sportschuhen mit dicken Sohlen im Dreck des Buschgeländes am Eingang zur Rangapuri-Siedlung. Schweine, Ratten, Ziegen und Vögel wühlen im Unrat. Dem religiösen Brauch entsprechend dulden die etwa 2000 vorwiegend hinduistischen Familien, die in Rangapuri leben, die Tiere.

Aber nun plant Jyoti eine Biogasanlage: Die Bewohner von Rangapuri werden ihre Küchenabfälle dann nicht mehr im Busch entsorgen müssen. Jyoti weist auf eine Grube hin, in der sich eine unappetitliche Flüssigkeit staut. Eine Brutstätte für Moskitos, die Malaria übertragen.

Jyoti Sharma: "Alles Abwasser fließt in die natürlichen Senken. In diesem Gelände gibt es viele Schottergruben. Also fließt das Wasser da hinein. Und da steht es dann und dringt in das Grundwasser ein. Das ist ein Desaster. Es führt natürlich zu Gesundheitsschäden, aber es verschmutzt auch das Grundwasser. Und die ganze Siedlung hängt zu hundert Prozent vom Grundwasser ab."

Ziel von Jyotis Organisation ist, das Abwasser so wieder aufzubereiten, dass es in Zukunft weder die Gesundheit der Siedler noch das Grundwasser belastet. Vor kurzem hatte Jyoti eine Gynäkologin zum Gespräch mit Slumbewohnern eingeladen.

Jyoti: "Während sie über Gesundheitsfragen sprach, sagte niemand etwas. Und dann sagte sie: Wer Gesundheitsprobleme hat, kann während der Pause zu mir kommen. Alle Frauen gingen zu ihr. Sie haben alle gynäkologische Probleme, die auf mangelnde Hygiene zurück zu führen sind. Und diese Krankheiten haben sie zusätzlich zu den anderen Infektionen. Das heißt: Frauen leiden meist sehr."

Aparna nickt Jyoti bestätigend zu. Auf dem weiteren Weg durchs Dorf entdecken sie eine bleiche, klägliche Frauengestalt, die in einem kleinen Hof steht. Ein stark geblähter Bauch wölbt sich unter ihrem lindgrünen Kunstfasergewand.

Zwei kleine Kinder hat Kamles Choudry an der Hand. Sie ist 28 Jahre alt. Früher hat sie auf dem Dorf gelebt. Da ging es ihr besser, da waren ihre Eltern und Geschwister. Da gab es jeden Tag Wasser. Hier hat sie nur alle paar Tage Wasser.

Seit zehn Jahren wohnt sie mit ihrem Mann im Rangapuri-Slum zur Miete. Als Steineklopfer und Bauarbeiter verdient er 4500 Rupies im Monat, knapp 76 Euro, das heißt nicht einmal halb soviel wie sein Nachbar, der Barkeeper Indrapal. Auf Kamles Stirn bilden sich Schweißperlen. Sie tropfen auf ihren Bauch. Kamles hat Fieber, Typhus fürchtet sie.

In Rangapuri gibt es in den meisten Häusern zwar keine Toiletten, eine öffentliche Toilettenanlage aber ist vorhanden - nur nicht funktionsfähig. Die Türen der blau gestrichenen Kabinen stehen offen. Neugierig lugen Ziegen daraus hervor. Neben den Toilettenwagen steht ein großer silberner Wassertank, von dem verwirrend viele Rohre abgehen. Jyoti deutet kopfschüttelnd darauf:

"Hier hat die Regierung sogar eine Wasserversorgung ermöglicht. Einige Leute haben die Wasserleitungen gelegt und verteilen das Wasser untereinander. Also diese Rohre hier versorgen etwa 80 Haushalte, die jeden Tag eine Zeit lang fließendes Wasser haben. Was Sie hier sehen, ist eine öffentliche Toilettenanlage, die nie in Betrieb genommen wurde, weil der private Betreiber das nötige Wasser dafür nicht kostenlos zur Verfügung gestellt hat. Und nur deswegen gibt es hier keine öffentliche Toilettenanlage."

Der Toilettenbetreiber hat sich die Wasserstelle unrechtmäßig angeeignet, privatisiert, und zu seinen Gunsten verteilt er nun Wasser gegen Geld. Die Nutzer zahlen ihm für fließendes Wasser 250 Rupies pro Monat, 4 Euro – und damit mehr als das Doppelte dessen, was man in einer gutbürgerlichen Wohngegend in Neu Delhi für einen besseren Komfort zahlt.

Jyoti: "Unser Anliegen ist, die Toilettenanlage näher an eine Wasserstelle zu bringen, die nicht verkäuflich ist. Da ist die Wasserstelle dann entweder an ein Rohrsystem angeschlossen mit schlechtem Wasser, das die Menschen nicht benutzen sollten. Oder wir benutzen wiederaufbereitetes Wasser - was wir hier vorhaben. Und unsere zweite Aufgabe: Wir haben hier eine Wassergemeinschaft gegründet, die langsam den Betreiber davon überzeugt, dass eine bestimmte Menge Wasser auch für die Gemeinschaftsanlagen bereit gestellt werden muss."

Jyoti hat jetzt noch eine Besprechung in Rangapuri, während Aparna, die Stadtplanerin sich am Straßenrand ein Taxi ruft und zurück in ihr Büro fährt. Dort ist es geräumig und dank der Klimaanlage auch kühl. Sie erzählt von einem Besuch in einem anderen, noch dichter besiedelten Slum in Mumbai vor einem Jahr.
Aparna: "Da war dieses kleine Mädchen, das dringend Wasser lassen musste. Und es waren so viele Leute drum herum. Niemand beachtete sie, aber ich konnte an ihrem Gesichtsausdruck erkennen: Sie meinte, die ganze Welt schaut auf sie. Sie musste doch so dringend pinkeln. Da hat sie sich - mitten in der Menge - hingehockt, hat ihren Rocksaum heruntergezogen so tief es ging und hat ihre Augen zugemacht. Ihren Gesichtsausdruck, während sie in der Öffentlichkeit pinkelte, den kann ich nicht vergessen."

Aparnas junger Kollege, Ramana Gudipudi, nickt. Wie sie ist er Stadtplaner, wie sie berät er die GTZ in Neu Delhi in Umwelt- und Hygienefragen. Ramana kommt aus einem Dorf an der Ostküste im Bundesstaat Andra Pradesh. In Indien nutzt die Landbevölkerung meist das freie Feld und den Wald als Toilette. Wasser dient als Toilettenpapier.

Auch Ramana tat das, als er noch in seinem Heimatdorf zur Schule ging. Weder zuhause noch in der Schule gab es eine Toilette, also ging er morgens etwa 500 Meter zu einem Bach.
Ramana Gudipudi: "Und das Schlimmste ist: Das war nicht nur ich. Das waren auch die anderen Schüler. Wir gingen alle zusammen. Und nachts war es noch schlimmer. Es ist buchstäblich stockdunkel. Dann kann man da nicht hingehen. Was wir also machten, war: Wir nahmen unseren Wasserkrug und hockten uns an den Rand der Nationalstraße. Du weißt nie, ob ein Laster Dich überfährt. Du weißt nie, was passieren wird. Ich hab echt Angst vor Schlangen – aber trotzdem. Ich hatte keine andere Wahl."

Auch Ramana hat das kleine Mädchen mitten in der Menschenmenge im Slum von Mumbai gesehen.

Ramana: "Sie war so eingeschüchtert. Sie hatte dieses leere Gesicht. Das zeigte schon, wie schrecklich sie sich fühlte. Das ist, ja, das ist ziemlich emotional, aber so etwas erinnert uns daran, was wir eigentlich tun sollten. Es geht nicht nur um die Technologie. Zur Hygiene gehören auch emotionale und soziale Fragen."