Jung erwartet Strategiewechsel in Afghanistan

Moderation: Jörg Degenhardt · 28.11.2006
Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung geht davon aus, dass die USA und Großbritannien künftig stärker auf zivile Maßnahmen beim NATO-Einsatz in Afghanistan setzen werden. Amerikaner und Briten hätten gesehen, dass die Strategie, die die Deutschen im Norden des Landes verfolgten, die erfolgreichere sei, betonte der CDU-Politiker vor dem NATO-Gipfel in Riga.
Jörg Degenhardt: In Rigas Nationaloper dürfte Afghanistan heute die Hauptrolle spielen. Im ehemaligen deutschen Theater der lettischen Hauptstadt treffen sich die Staats- und Regierungschefs der 26 NATO-Staaten. Und sie haben eine Reihe von anderen Problemen bereits aussortiert und auf die längere Bank geschoben, etwa die Erweiterung der Allianz oder aber die Debatte über deren innere Reformen. Vielleicht auch ganz gut so, denn im Zusammenhang mit Afghanistan gibt es ausreichend Gesprächsstoff. 2700 Bundeswehrsoldaten stehen im Norden des Landes. Es gibt Verbündete, die vermissen die Deutschen im umkämpften Süden. "Unsolidarisch" nennt das der dänische Verteidigungsminister. Und bei den Amerikanern gibt es Stimmen, die sagen, die Hauptverantwortung des Kämpfens werde von Amerikanern, Briten, Kanadiern und Niederländern geschultert. Am Telefon begrüße ich den Bundesverteidigungsminister Franz Jung. Guten Morgen, Herr Jung.

Franz Josef Jung: Guten Morgen, Herr Degenhardt.

Degenhardt: Sehen Sie denn die Lasten in Afghanistan unter den NATO-Partnern angemessen verteilt?

Jung: Ja. Wir haben eindeutig vereinbart, dass Afghanistan insgesamt stabilisiert und wieder aufgebaut werden muss. Wir haben das sehr frühzeitig im Norden begonnen und sind dort auch erfolgreich unterwegs. Der Süden, der hat jetzt erst im Grunde genommen diese Aufgabe übernommen. Wir haben erst am 5. Oktober entschieden in der NATO, dass beispielsweise der Osten jetzt die letzte Region ist im Hinblick auf den Wiederaufbau. Und deshalb glaube ich, muss genau das jetzt beginnen, was wir im Norden bereits erfolgreich umsetzen, aufs gesamte Land ausgedehnt zu werden. Wir können allein diesen Konflikt nicht militärisch gewinnen. Wir werden nur diese Operation gewinnen, wenn wir die Bevölkerung an unsere Seite ziehen. Und das, glaube ich, gelingt nur, wenn Sicherheit gewährleistet ist, aber auch gleichzeitig der Wiederaufbau erfolgt.

Degenhardt: Wie wollen Sie gleichwohl verärgerten Verbündeten – ich habe den dänischen Außenminister erwähnt – in Riga den Wind aus den Segeln nehmen? Etwa durch eine verstärkte deutsche Entwicklungshilfe im Süden des Landes?

Jung: Also zunächst will ich einmal sagen, dass der dänische Kollege mir signalisiert hat, dass das völlig falsch zitiert worden ist, dass er das völlig anders sieht, denn wir haben ja gemeinsam auch operiert im Norden. Und ich will deutlich machen, dass genau diese Strategie, die wir erfolgreich dort umsetzen, jetzt zu einer NATO-Strategie insgesamt werden muss. Und dass wir hier die Koordinierung auch international vorantreiben müssen. Eins will ich allerdings auch sagen: In einer NATO-geführten Operation gilt es natürlich, dass, wenn Freunde in Not geraten, man ihnen auch hilft. Und das ist auch in unserem Mandat vorgesehen. Aber es ist bisher keine derartige Anforderung erfolgt.

Degenhardt: Sie haben gerade gesagt, wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Jung, dass man in Afghanistan nicht nur die militärische Karte spielen kann. Heißt das, es braucht für den Kampf im Süden gegen die Taliban keine Verstärkung der Mannschaftsstärke?

Jung: Also man muss Folgendes sehen: Wir haben im Norden, Sie haben es gerade gesagt, rund 2800 Soldatinnen und Soldaten. Wir haben im Süden 9700. Wir haben im Osten 12.000. Dort ist noch eine zusätzliche Unterstützungsgruppe durch OEF, also Operation Enduring Freedom, mit 10.000. Das heißt im Klartext: Aus meiner Sicht ist hier die militärische Situation ausreichend beschrieben. Wir müssen aus meiner Sicht hier den Wiederaufbau wie gesagt vorantreiben. Wir haben im Norden 520 Projekte bereits umgesetzt. Das heißt von Wasserversorgung über Infrastruktur, also Straßen, bis zu Schulen bis zu Krankenhaus. Das sind, glaube ich, die entscheidenden Punkte. Und wenn der kommandierende General, General Richards, in Afghanistan sagt, aus seiner Sicht sind noch 70 Prozent der Bevölkerung unentschieden, dann, glaube ich, muss genau das unser Ansatzpunkt sein: die Bevölkerung für uns zu gewinnen, die Herzen der Menschen für uns zu gewinnen. Dann, glaube ich, werden wir auch erfolgreich sein in diesem Prozess.

Degenhardt: Herr Minister, Sie schreiben heute in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", die Zusammenarbeit der internationalen Organisationen, die in und für Afghanistan tätig sind, die müsse im Lande selbst verbessert werden. Können Sie das ein bisschen konkretisieren?

Jung: Ja. Wir müssen meines Erachtens hier auch institutionell weiter vorankommen. Im Klartext: Wir machen es so, dass wir über Außenministerium, Verteidigungsministerium, Innenministerium, Entwicklungshilfeministerium, Wirtschaftsministerium regelmäßig die Koordination vornehmen für unseren Einsatz im Norden von Afghanistan. Aber das muss für die internationale Gemeinschaft gelten. Wir müssen hier sowohl für die Nichtregierungsorganisationen, aber auch andere Hilfsorganisationen hier mit koordinierend tätig sein, damit diese Maßnahmen auch dann unmittelbar den Menschen zugute kommen. Wir müssen Sicherheit herstellen, aber auch diesen zivilen Aufbauprozess betreiben. Und das bedarf aus meiner Sicht auch noch einer besseren Koordinierung, ja, auch einer gewissen Institutionalisierung, damit der Prozess erfolgreich international vorangetrieben werden kann.

Degenhardt: Was würde denn auf der anderen Seite ein Scheitern der NATO in Afghanistan bedeuten?

Jung: Also davon gehe ich nicht aus. Tatsache ist, dass dies eine NATO-geführte Operation ist. Und hier auch ein Stück die Glaubwürdigkeit der NATO auf dem Spiel stünde, wenn wir nicht erfolgreich wären. Ich glaube, die Erfahrung, die Russland dort gemacht hat – die hatten ja über 100.000 Soldaten dort -, zeigt, dass eben ein solcher Prozess nicht militärisch allein zu gewinnen ist. Und dass wir diese Strategie entwickeln müssen. Ich bin froh darüber, dass auch beispielsweise heute der französische Präsident in diese Richtung argumentiert. Und deshalb bin ich ganz hoffnungsvoll, dass wir uns in Riga genau auf diese Strategie verständigen und sie dann auch entsprechend umsetzen. Und dann bin ich überzeugt davon, dass wir auch letztlich erfolgreich sein werden.

Degenhardt: Sind Sie auch deswegen so hoffnungsvoll, weil Sie die Amerikaner mit im Boot wissen, weil sie auch genau diese Strategie, dass die militärische Stärke allein nicht ausreicht, mittlerweile vielleicht auch unterstützen? … Jetzt haben wir offensichtlich ein kleines Leitungsproblem: Hallo, Herr Jung?

Jung: Hallo?

Degenhardt: Ja, jetzt sind Sie wieder da. Wir hatten – Sie waren kurz entschwunden. Vielleicht können Sie noch mal ansetzen, mit der Antwort. Die Frage war, inwieweit die Amerikaner jetzt auch mit im Boot sind, wenn es darum geht, nicht nur auf die militärische Lösung des Problems in Afghanistan zu setzen, sondern auch die Wirtschaftshilfe zu verstärken.

Jung: Also die Amerikaner sind jetzt mit im Boot. Sie haben mir sehr deutlich signalisiert, dass sie gesehen haben, dass unser Prozess, den wir im Norden Afghanistans schon bereits seit 2003 ja ein Stück vorantreiben, der erfolgreichere ist. Und bei dem letzten Treffen der NATO-Verteidigungsminister hat sowohl der britische Kollege als auch der amerikanische Kollege deutlich in unsere Richtung argumentiert. Es war noch ein bisschen Zurückhaltung bei den französischen Freunden. Und deshalb bin ich froh darüber, dass heute der französische Präsident sich auch in diese Richtung äußert. Und insofern bin ich sehr hoffnungsvoll, dass wir in Riga zu einer richtigen Entscheidung für die künftige NATO-Strategie, auch für Afghanistan, kommen.

Degenhardt: Vor dem NATO-Gipfel in der lettischen Hauptstadt, vielen Dank für das Gespräch. Am Telefon von Deutschlandradio Kultur war der Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung.